Von Claudia Becker
Redakteurin
Stand: 28.01.2021
WELT: Frau Jehniche, der Berliner Justizsenator hat angekündigt, in diesem Jahr das Neutralitätsgesetz zu kippen. Was haben Sie dagegen?
Karina Jehniche: Es geht ja gar nicht in erster Linie um das Kopftuch. Das Neutralitätsgesetz sieht generell vor, in der Schule keine sichtbaren religiösen Symbole zu tragen. Dadurch steht im Moment eine Lehrkraft vor der Klasse, die nach außen keiner Religion zuzuordnen ist. Wenn das Neutralitätsgesetz gekippt wird, dann sind in der Schule Lehrerinnen mit Kopftuch erlaubt, aber auch Lehrer, die eine Kippa tragen oder Lehrer mit einem Kreuz auf der Brust. Das könnte den Schulfrieden gefährden.
Gerade in Schulen, die in Brennpunkten liegen, in denen der Migrationsanteil sehr hoch ist und ganz unterschiedliche Kinder mit den unterschiedlichsten religiösen Hintergründen zusammen lernen, kann das problematisch werden.
WELT: So wie in der von Ihnen geleiteten Christian-Morgenstern-Grundschule in Berlin-Spandau.
Jehniche:
Muss ich dann paritätisch vorgehen? Muss ich dann auch dafür sorgen, dass ich einen Lehrer habe, der eine Kippa trägt? Oder jemanden einstellen, der sich sichtbar zu seinem evangelischen oder katholischen Glauben bekennt?
Ich möchte solche Fragen in der Schule gar nicht entscheiden müssen. Ich möchte Menschen ja nicht nach ihrer Religionszugehörigkeit einstellen, sondern weil sie ins Team passen, gute pädagogische Ansätze haben. So möchte ich auch gegenüber den Eltern die Anstellung einer Lehrkraft vertreten und nicht damit, dass sie zum Beispiel ein Kopftuch trägt.
WELT: Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) sagt zum Kopftuchstreit: "Es kommt darauf an, was die Menschen im Kopf haben und nicht, was sie auf dem Kopf haben." Wird dem Kopftuch vielleicht doch zu viel Bedeutung beigemessen?
Jehniche:
WELT: ... damit der Mann von ihren weiblichen Reizen nicht angesprochen wird.
Jehniche: Ja, unter anderem. Von den Schülerinnen, die bei uns Kopftuch tragen, weiß ich, dass das eine Haltung ist, die in der Familie meist auch die Mutter und Großmutter teilen, die fest in der Tradition verankert sind. Muss ich mich also dann Diskussionen stellen, bei denen Eltern fordern, dass die Kinder, die Kopftuch tragen, lieber von einer Lehrerin unterrichtet werden, die auch ein Kopftuch trägt?
Für mich als Schulleiterin ist es bei einer Neuanstellung entscheidend, dass die Lehrkraft alle Kinder gleichbehandelt. Egal, welcher Religion sie angehören, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht.
WELT: Das würde natürlich nicht nur das Kopftuch betreffen.
Jehniche: Natürlich nicht, sondern auch das christliche Kreuz oder die jüdische Kippa. Auch da bleibt die Frage, ob die Eltern von der Unbefangenheit der Lehrkraft überzeugt sind. Oder der Lehrkraft vorgeworfen wird, dass sie aufgrund ihrer Religion entscheidet. Ich möchte auch nicht, dass die Schüler den Eindruck bekommen, bestimmte Haltungen einnehmen zu müssen.
WELT: Wie sehr bestimmen denn schon jetzt religiöse Fragen den Schulalltag?
Jehniche:
WELT: In welchen Bereichen stellt die Vielfalt an Ihrer Schule Sie vor besondere Herausforderungen?
Jehniche: Womit wir uns jedes Jahr auseinandersetzen müssen, ist der Ramadan. Das bedeutet, dass Kinder im Tagesverlauf, in dem sie durch den Schulalltag beansprucht sind, weder Essen noch Trinken dürfen. Im Winter lässt sich damit leichter umgehen. Wenn sie im Sommer nicht trinken, machen wir uns schon Sorgen um ihre Gesundheit.
Wir haben unter den Kollegen festgelegt, dass, sobald es einem Kind nicht gut geht, die Eltern benachrichtigt werden, damit sie es abholen. Wenn die Eltern das nicht tun, wir aber den Eindruck haben, das Kind zeigt Schwächeerscheinungen, weil es nicht trinkt, rufe ich einen Arzt. Da kann ich die Verantwortung nicht übernehmen.
Sportfeste in der Ramadan-Zeit sind natürlich schwierig. Auch Klassenarbeiten. Wenn die Kinder sich am Ramadan beteiligen, beteiligen sie sich ja auch am Fastenbrechen nach Einbruch der Dunkelheit. Dann sind sie morgens unausgeschlafen. Wir versuchen in dieser Zeit zu vermeiden, in der ersten Stunde eine Arbeit zu schreiben.
WELT: Könnte eine Lehrerin mit Kopftuch nicht auch ein Vorbild für einen aufgeklärten gewaltfreien Islam sein?
Jehniche: Auch diese Diskussion um die Gewaltbereitschaft einer Religion gehört meiner Ansicht nach nicht in die Schule. Einerseits würde ich die Lehrerin dafür missbrauchen, dass sie stellvertretend für ihre Religion einen Standpunkt vertritt. Andererseits müsste dann auch der Hinweis auf Glaubenskriege im Namen des Christentums zulässig sein.
Ich möchte weder die eine noch die andere Religion als friedlich oder gewaltbereit darstellen. Wir müssen über Religionen informieren und den Kindern vermitteln, dass sie ihnen gegenüber aufgeschlossen sein sollen. Wir sollten in der Schule aber keine Werturteile fällen. Wir sind schließlich auf ein tolerantes und friedliches Miteinander angewiesen.
WELT: Ein Argument gegen Lehrerinnen mit Kopftuch ist auch, dass muslimische Mitschüler und Mitschülerinnen eventuell den Druck auf liberale Muslima erhöhen, ein Kopftuch zu tragen. Teilen Sie die Befürchtung?
Jehniche: Die Befürchtungen sind da. Bei den Sechstklässlern gibt es durchaus einige Jungs, die einen guten Kontakt zu allen Mitschülerinnen haben, die aber klar betonen, für wie wichtig sie das Kopftuch halten. Sie wollen später nur eine Frau heiraten, die Kopftuch trägt. Ich glaube, dass in Bezug auf das Tragen eines Kopftuchs durchaus Einfluss und vielleicht auch Druck durch eine Lehrerin erfolgen kann, die Kopftuch trägt.
WELT: Ist denn eine Lehrerin wirklich noch so ein Vorbild?
Jehniche: Aber ja, und zwar je jünger die Schülerinnen und Schüler sind umso mehr. Erstklässler können ihre Lehrkräfte richtig lieben und wollen auch deren Zuwendung. Ich möchte nicht, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer deshalb mit dem öffentlich getragenen religiösen Symbol einen Einfluss auf die Schüler ausübt.
Wenn Teenager sich freiwillig entscheiden, das Kopftuch zu tragen, dann muss ich das akzeptieren. Aber ich möchte nicht, dass sie als kleine Kinder täglich jemanden für mehrere Stunden vor Augen haben, der ihnen eine bestimmte religiöse Richtung zeigt. Sie können aufgrund ihrer häuslichen Umgebung eine Entscheidung treffen, aber nicht weil ihnen eine Lehrerin das vorlebt.
Ich finde, je diverser und multireligiöser eine Gesellschaft ist, desto wichtiger ist die Schule als Ort der Bildung und Sozialisation durch aufgeschlossene, neutrale Lehrerinnen und Lehrer. Die Erhaltung des Neutralitätsgesetzes kann uns dabei helfen.