Rekrutierung "So viele sind nicht zurückgekommen" - Wie Ukrainer sich vor der Armee verstecken

Von Alfred Hackensberger Korrespondent für Kriegs- und Krisengebiete

Alfred Hackensberger berichtet seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT. Vorwiegend aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, zuletzt aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.

Veröffentlicht am 30.10.2024 Lesedauer: 7 Minuten

Die Ukraine steht an der Front unter Druck. Ein neues Mobilisierungsgesetz sollte mehr Soldaten für die geschwächte Armee bringen. Doch Hunderttausende sind untergetaucht und warnen sich per Chat vor der Militärpolizei. Die Behörden verstärken ihre Kontrollen. Und die Bevölkerung wird unruhig.

Ruhepausen an der Front sind selten geworden
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

Er bringt seinen Sohn zur Schule und holt ihn wieder ab. Nur noch dafür verlässt Yevgen, der eigentlich anders heißt, das Haus. "Ich möchte nicht, dass mich die Militärpolizei schnappt und ich in die Armee muss", sagt der 35-Jährige.

Für das Gespräch mit WELT AM SONNTAG macht er eine Ausnahme. Es findet in einem kleinen Kiosk-Café statt, in einer der für den Großraum Kiew so typischen Trabantensiedlungen. Dutzende Wohnblöcke, jeweils viele Hunderte Meter lang und 25 Stockwerke hoch, reihen sich hier aneinander.

Yevgen bestellt Limonade und Apfelkuchen für seinen sechsjährigen Sohn. "So viele sind nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen, man sieht überall Soldaten ohne Arme und Beine", sagt er. "Selbst mein Bruder, der beim Inlandsgeheimdienst arbeitet, hat mir abgeraten, zum Militär zu gehen." Um der unfreiwilligen Rekrutierung zu entgehen, nutzt Yevgen ein Warnsystem.

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"Hier haben wir auf WhatsApp eine Nachrichtengruppe für unseren aktuellen Standort", sagt er und zeigt auf sein Handy. "Und hier ist eine, die ich benutze, wenn ich meine Mutter außerhalb von Kiew besuche." Im Chat bedeutet die Nachricht "sonnig", dass der Weg frei ist. "Regnerisch", warnt vor einem Checkpoint in der Nähe. Die Gruppen decken das ganze Land ab, sie haben 10.000, 20.000 und mancherorts auch noch mehr Mitglieder.

Schätzungen zufolge soll es in der Ukraine 800.000 Männer wie Yevgen geben. Sie sind untergetaucht, haben ihre Adresse geändert und arbeiten inoffiziell, wie Dmytro Natalukha, Leiter des Wirtschaftsausschusses des ukrainischen Parlaments, bereits im Juni erklärte. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen weiß Yevgen nicht, wie lange er noch unentdeckt bleibt.

Die ukrainischen Behörden führen vermehrt Kontrollen in Restaurants, Bars und auf den Straßen durch - Methoden, die in der Bevölkerung kritisch gesehen werden. Männer, die keine gültigen Papiere vorweisen können, erhalten einen Termin in einem der territorialen Rekrutierungszentren. Und wer bereits einen Termin versäumt hat, kann sich zeitnah in einer Trainingseinrichtung wiederfinden.

Im Mai hatte Kiew mit einem neuen Mobilisierungsgesetz das Einberufungsalter für Rekruten von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt und zugleich eine Meldepflicht eingeführt. Mehr als vier Millionen Männer haben sich seitdem über die App des Verteidigungsministeriums registriert - aber bei Weitem nicht alle.

Im Feldlazarett: Viele Ukrainer wollen nicht zur Armee - aus Angst, verwundet zu werden oder zu sterben
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

Die Ukraine braucht neue Soldaten, die Lage an der Front ist angespannt. Seit Mai rekrutierten die Behörden jeden Monat rund 30.000 Männer. Doch das reicht nicht. "Wir bräuchten eigentlich 60.000", sagt Roman Kostenko in der Lobby eines Hotels in der Nähe des Regierungsviertels.

Der 41-Jährige ist Oberst der Streitkräfte, Abgeordneter und Sekretär des Verteidigungsausschusses im ukrainischen Parlament. Im September sei auch die Rate von 30.000 nicht erreicht worden, gibt Kostenko zu. Angesichts der schleppenden Rekrutierung plant Kiew, in den kommenden drei Monaten weitere 160.000 Soldaten zu mobilisieren - zusätzlich zu den 1,05 Millionen, die bereits im Einsatz sind. Kostenpunkt: umgerechnet etwa 110 Millionen Euro.

Roman Kostenko
Quelle: Ricardo Garcia Vilanova

Die Ausrüstung neuer Einheiten scheint durch das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahlen vorerst nicht gefährdet. Washington plant Medienberichten zufolge noch vor der Amtsübernahme Donald Trumps, sämtliche bereits beschlossenen Militärhilfen im Wert von neun Milliarden Dollar freizugeben.

Mit neuen Soldaten könnten die ukrainischen Streitkräfte Verluste kompensieren und den kämpfenden Einheiten zusätzliche Pausen ermöglichen. US-Angaben zufolge hat Kiew seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 bereits 57.500 Männer und Frauen verloren, rund 250.000 wurden verletzt. Auf russischer Seite soll es mindestens 615.000 Getötete und Verwundete geben.

Doch Wladimir Putin lässt nicht nach, seine zahlenmäßig immer noch überlegene Armee setzt die Ukraine derzeit gleich an zwei Frontabschnitten stark unter Druck. In der Region Kursk versucht sie, eigenes Territorium zurückzuerobern, das im August während einer Überraschungsoffensive von ukrainischen Truppen besetzt wurde. Hier soll die russische Armee auch Unterstützung von Soldaten aus Nordkorea erhalten.

Quelle: Infografik WELT

Der zweite Brennpunkt aus Sicht Kiews ist die Oblast Donezk im Osten der Ukraine. "Die heißesten Gebiete liegen auf den Achsen von Pokrowsk und Kurachowe", hieß es dieser Woche in einem Bericht des ukrainischen Generalstabs. Moskau konzentriert sein gesamtes Offensivpotenzial in diesem Abschnitt. Zwar kommt Putins Armee nur langsam und unter Inkaufnahme enormer Verluste voran, erobert jedoch stetig weiter ukrainische Dörfer.

Der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj spricht von einem der "stärksten Angriffe" seit Beginn der russischen Invasion. Die Kämpfe in bestimmten Gebieten würden "eine ständige Erneuerung der Ressourcen der ukrainischen Einheiten" erfordern, so der Vier-Sterne-General.

In dieser angespannte Lage könnte der Einsatz zusätzlicher neuer Verbände den Kriegsverlauf entscheidend zugunsten Kiews verändern. Hätte sich nur ein Drittel der Männer zum Militärdienst gemeldet, die sich wie Yevgen in ihren Wohnungen verstecken, dann könnte es an der Front im Osten ganz anders aussehen.

Die Untergetauchten als neues Geschäftsmodell

Doch das Argument will Yevgen nicht gelten lassen. "Die vorhandenen Waffen reichen doch gar nicht aus, um 250.000 Leute auszurüsten", sagt er entschieden. "Sie vergessen auch die Korruption in der Armee, die miserablen Kommandeure und das schlechte Training der Rekruten."

Punkte, die man von Kritikern Kiews häufig hört, die in der Realität aber so pauschal nicht zutreffen. Auf persönlicher Ebene ist Yevgens Einstellung indes nachvollziehbar: Der Familienvater will sein Leben nicht aufs Spiel setzen. Und damit ist er nicht alleine. "80 Prozent der Männer auf den Straßen Kiews wollen nicht in den Krieg", glaubt Oberst Kostenko.

"Sehen Sie, es ist eine Frage der Perspektive", fährt er fort. "So ist ein Soldat im Schützengraben drauf fokussiert, zu überleben, während der Generalstab strategisch denkt und das große Bild im Auge hat. "

Für die Armee sind die Männer, die sich zu Hause vergraben, ein Problem. Für andere sind sie ein neues Geschäftsmodell. Etwa für Wolodymyr, der sein Auto gerade in einer Toyota-Filiale reparieren lässt und etwas Zeit übrig hat. Der 57-Jährige, der seinen Nachnamen für sich behält, hat seinen Bürojob während des Kriegs verloren. Jetzt arbeitet er als Fahrer für einige Restaurants in der ukrainischen Hauptstadt. Seit Inkrafttreten des Mobilisierungsgesetzes im Mai ist ihm etwas aufgefallen.

"Seit fünf Monaten geht die Zahl unserer Kunden beständig nach oben", sagt Wolodymyr. "Und sie bestellen viel mehr als früher: Zu einer Lieferung gehören oft Frühstück, Mittag- und Abendessen." Ob alle seine Neukunden sich vor der Armee verstecken, weiß er natürlich nicht. Das Essen stellt er vor der Tür ab.


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