FOCUS-online-Redakteur Christian Böhm
Donnerstag, 18.08.2022, 14:51
Muss Max Giesinger seinen Hit "80 Millionen" nun umtexten? Laut Prognose ja. Denn Deutschland wächst rasant. Die Zahl der Einwohner legt laut aktuellem Deutschland-Monitor von Deutsche Bank Research auf nahezu 86 Millionen im Jahr 2030 zu. Das Land erlebt gerade einen Rekordzuzug, den höchsten seit 1990.
Im vergangenen Jahr kamen rund 329.200 Personen nach Deutschland und damit in etwa genauso viele wie vor der Pandemie - vor allem aufgrund von Fluchtbewegungen aus Syrien und Afghanistan in der zweiten Jahreshälfte. In diesem Jahr erwartet Deutsche Bank Research wegen des russischen Angriffskriegs einen Zuzug von 1,3 Millionen Flüchtlingen allein aus der Ukraine. Für 2023 rechnen die Analysten noch mit 260.000 Ukrainern.
Die Einwohnerzahl in Deutschland erhöht sich laut Prognose damit von 83,3 Millionen im Jahr 2021 auf 84,9 Millionen und 85,4 Millionen in den Jahren 2022 und 2023. "Damit wäre die Flüchtlingswelle deutlich größer als 2015", heißt es in der Studie. Sie werde wohl nur von der Zuwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg übertroffen.
Doch welche Folgen bringt diese Zuwanderung mit sich? Ist sie mehr Chance oder Risiko? Oder beides? Die Volkswirte von Deutsche Bank Research rechnen vor allem damit, dass sich die Wohnraumknappheit erstmal weiter verschärfen wird. Zwar stünden deutschlandweit zwei Millionen Wohnungen leer, doch typischerweise außerhalb der Ballungsgebiete, in die es Flüchtlinge weniger zieht.
Zudem seien die nationalen CO2-Emissionsziele schwieriger einzuhalten. Auch die globalen CO2-Emissionen und der globale Ressourcenverbrauch erhöhten sich tendenziell, insbesondere, wenn der Zuzug aus Ländern mit deutlich geringerem Lebensstandard und folglich geringerer Klima- und Umweltbelastung pro Kopf erfolge.
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Auf der Haben-Seite verbuchen die Analysten hingegen gesteigerten Konsum und damit positive Impulse für die Wirtschaft. Vor allem aber: "Der Arbeits- und Fachkräftemangel wird gemildert und die negativen Effekte der alternden Gesellschaft gedämpft." Die Ökonomen sind überzeugt: "Langfristig dürften die positiven Aspekte die negativen bei Weitem übertreffen."
In Deutschland fehlen nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mehr als eine halbe Million Fachkräfte. Besonders groß sei die Personalnot in der Sozialarbeit, der Erziehung, der Pflege, dem Handwerk und der Informationstechnik, wie das IW erst vergangene Woche mitteilte.
Was aber, wenn die nach Deutschland geflüchteten Ukrainer sofort nach Kriegsende wieder zurückkehren und dem deutschen Arbeitsmarkt erst gar nicht oder nur kurz zur Verfügung stünden? "Es gibt gute Gründe dafür, dass die Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland bleiben", stellt Studienautor Jochen Möbert klar. "Sie sind in Deutschland willkommen und werden hier auch gebraucht - Stichwort: Fachkräftemangel."
Frank Swiaczny, Bevölkerungsgeograph beim Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), hält die Annahmen von Deutsche Bank Research grundsätzlich für plausibel, wie er im Gespräch mit FOCUS online erklärt. Er gibt allerdings zu bedenken, dass die mittelfristige Prognose der Zuwanderung von Menschen aus der Ukraine mit einiger Unsicherheit behaftet sei.
Doch: "Die zu uns geflüchteten Menschen aus der Ukraine sind relativ gut ausgebildet, viele wollen in Deutschland bleiben", sagt Swiaczny. Es sei also durchaus wahrscheinlich, dass sie sich gut integrieren können. Die Zuwanderung gerade aus der Ukraine könnte in den nächsten Jahren sogar noch deutlich höher ausfallen.
"Im Moment sind es vor allem Frauen und Kinder, ohne Partner, die zu uns vor dem Krieg geflüchtet sind", so Swiaczny. "Sollte eine Verstetigung einsetzen und viele auf Dauer in Deutschland bleiben, dann würde sehr wahrscheinlich ein Familiennachzug einsetzen."
Auch er sieht in der Zuwanderung von jungen Menschen mit guter Ausbildung und Perspektiven, jedenfalls rein ökonomisch betrachtet, mittel- bis langfristige Gewinne für die Gesellschaft insgesamt. Wichtig bei der Integration sei aber ein konkreter Plan.
"Hier kann man viel falsch machen", gibt Swiaczny zu bedenken. Deshalb bedürfe es echter Angebote, wie Kindergarten, Schule, Sprachkurse, Fortbildungen und allgemeine Unterstützung bei der Integration. Das müsse systematisch betrieben werden. "Einfach abwarten und hoffen funktioniert nicht." Das zeige die Erfahrung aus 70 Jahren Einwanderungspolitik in Deutschland.
Ungelöst ist derweil auch, dass sich Einwanderung nicht gleichmäßig auf das Bundesgebiet verteilt. "Die internationale Migration zielt vor allem in die Ballungsräume, weil hier Netzwerke bestehen und Arbeitsplätze vorhanden sind", erläutert Bevölkerungswissenschaftler Swiaczny die Hintergründe.
Ein Beispiel ist die Bundeshauptstadt: "Berlin ist für viele, insbesondere IT-Fachkräfte aus Indien interessant, weil dort eine Startup-Kultur herrscht und Englisch oft die Bürosprache ist", sagt Jochen Möbert von Deutsche Bank Research.
"Die nationale Perspektive ist deshalb das eine, die regionale oft etwas ganz anderes", macht Swiaczny deutlich. Zuwanderung trage nämlich dazu bei, räumliche Disparitäten des demographischen Wandels zu verstärken. "Oft entscheidet dabei die Situation vor Ort über Erfolg oder Konflikt."
Eines ist aber auch klar: "Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung, nach Prognose von Destatis, im Jahr 2060 auf 65,2 Millionen sinken, bei moderater Zuwanderung auf 78,2 Millionen", berichtet Swiaczny. Aktuell liegt der sogenannte Sterbeüberschuss in der Bundesrepublik bei rund 200.000 Menschen pro Jahr.
Quelle: focus.de