Montag, 22.02.2016, 09:49 · von FOCUS-MONEY-Redakteur Jens Jüttner
Steuer- und Rentenexperte Bernd Raffelhüschen rechnet mit 900 Milliarden Euro an Kosten für den deutschen Steuerzahler durch den Flüchtlingszustrom. Seiner Meinung nach gibt es nur einen Weg, wie aus der planlosen Zuwanderung eine Erfolgsstory werden kann.
FOCUS-MONEY: Die Flüchtlingskrise kostet Deutschland Ihren Berechnungen zufolge 900 Milliarden Euro. Wie setzen sich diese gigantischen Kosten zusammen?
Bernd Raffelhüschen: Dies ist die negative fiskalische Dividende, die sich aus der Generationenbilanz für Deutschland ergibt, wenn man annimmt, dass bis zum Jahr 2018 insgesamt zwei Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen und eine Integration in den Arbeitsmarkt innerhalb eines Zeitraums von sechs Jahren gelingt. Dieses Szenario hätte also eine Ausweitung der staatlichen Nachhaltigkeitslücke zur Konsequenz.
MONEY: Was meinen Sie mit der Nachhaltigkeitslücke des Haushalts?
Raffelhüschen: Die Nachhaltigkeitslücke ist die Summe aus expliziten und impliziten Staatsschulden. Implizite Schulden resultieren im Wesentlichen aus zukünftigen Haushaltsdefiziten. Dabei handelt es sich um zukünftige Verbindlichkeiten der Staaten, also etwa um angesammelte Ansprüche der Bürger an die Renten-, Pflege- oder Krankenversicherung sowie die Grundsicherung, Pensionslasten usw. Je generöser also die Leistungsversprechen in einer ohnehin bereits alternden Gesellschaft sind, desto größer ist diese implizite Schuldenlast. Bei einem weiterhin ungebremsten Zustrom an Flüchtlingen wird die Lücke weiter anwachsen. Im beschriebenen Szenario Flüchtlingszustrom beliefe sich die Nachhaltigkeitslücke auf mehr als 307 Prozent des bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP), also 900 Milliarden Euro mehr als im Basisfall, wo die Nachhaltigkeitslücke bei 275 Prozent läge. Und dabei handelt es sich bereits um eine optimistische Annahme.
MONEY: Wie sieht denn das realistische Szenario aus?
Raffelhüschen: Sollte die Qualifizierung und Integration in den Arbeitsmarkt mehr Zeit benötigen, fallen die Kosten noch deutlich höher aus. Dann würden die Kosten für die Flüchtlinge weit über einer Billion Euro liegen.
MONEY: In Ihren Berechnungen gehen Sie von dauerhaften Kosten von 17 Milliarden Euro pro Jahr für den deutschen Steuerzahler aus. Worauf bezieht sich diese Summe?
Raffelhüschen: Das sind die Kosten, die unmittelbar aus der zusätzlichen Zuwanderung entstehen. Unsere Berechnungen basieren nicht auf der gesamten Zuwanderung. Diese Kosten wären erheblich höher. Es geht um die 800.000 Personen, die der Einladung der deutschen Regierung gefolgt sind. Die Annahme ist die:
MONEY: Kurzfristig gehen einige Ökonomen von einem Konjunkturprogramm durch den Flüchtlingsstrom aus und rechnen mit einem BIP-Aufschlag von 0,2 Prozentpunkten bis 0,25 Prozentpunkte. Das klingt doch ermutigend.
Raffelhüschen: In unserer Betrachtung sind keine Spontankosten enthalten, die durch die Einstellung neuer Lehrer oder den Bau von Wohnungen entstehen. Dennoch ist korrekt: Kurzfristig betrachtet, handelt es sich um eine kleine Konjunkturwelle, weil der Staat Geld ausgibt - er konsumiert und sorgt somit für zusätzliche Nachfrage. Trotzdem lassen sich die Kosten nicht ansatzweise verlässlich berechnen. Sie sind völlig arbiträr. Beispiel Wohncontainer: Normalerweise würde man die Preise mit der Anzahl der Container multiplizieren. Das Ergebnis flösse dann in die Betrachtung ein. Nun sind die Preise aber explodiert.
MONEY: Klingt eher nach einer größeren Konjunkturwelle . . .
Raffelhüschen: Die Preise explodieren, weil die Kommunen diese Preise zahlen müssen, die können doch gar nicht anders. Als Volkswirt kann man hinsichtlich dieser Kosten für die Gesamtbetrachtung nun spekulieren, wie man will. Da mache ich aber nicht mit. Die Spontankosten spielen für das Gesamtbild keine große Rolle.
MONEY: Von welchem Bildungsniveau der Flüchtlinge gehen Sie denn in Ihrer Betrachtung aus?
Raffelhüschen: Wir nehmen an, dass die Flüchtlinge, die nun nach Deutschland kommen, ähnlich gut ausgebildet sind wie die ausländischen Mitbürger, die bereits in Deutschland leben. Und das ist ebenfalls eine optimistische Annahme.
MONEY: Inwiefern?
Raffelhüschen: Insofern, als ich zu bezweifeln wage, dass die Integration der momentan nach Deutschland kommenden Flüchtlinge ähnlich gut verlaufen wird wie beispielsweise die der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in den Jahren 1993 und 1994.
MONEY: Die einzige derzeit verfügbare Quelle zu Qualifikation und Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen ist das sozioökonomische Panel. Kritiker merken an, dass die Daten zu alt sind, um eine verlässliche Aussage über das Bildungsniveau von Flüchtlingen treffen zu können.
Raffelhüschen: Das ist so weit richtig, aber für unser unrealistisch optimistisches Szenario taugen sie dennoch. Über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) stehen der Regierung tatsächlich bessere Informationen zur Verfügung, die wir als Wissenschaftler noch nicht bekommen. Dahingehend weiß die Regierung mehr. Und ich bin mir sicher, dass sie die Daten zunächst lieber nicht herausgibt.
MONEY: Die Regierung geht allerdings davon aus, dass die Integration zu schaffen ist. Finanzminister Wolfgang Schäuble will die schwarze Null halten, und Angela Merkel gibt vor, ohne Steuererhöhungen auszukommen. Ist das realistisch?
Raffelhüschen: Noch mal: Der Flüchtlingszustrom kostet Geld. Und wir werden das bezahlen müssen. Ob nun durch steigende Steuern, steigende Beiträge oder durch noch mehr Schulden, das hat allein Frau Merkel in der Hand. Und eins darf man bei der Betrachtung nicht vergessen: Sie fußt nicht auf der Annahme, dass es konjunkturell und mit der Höhe der Steuereinnahmen so gut weitergeht wie derzeit. Momentan leben wir in der besten aller möglichen Welten. Wenn das Konjunkturniveau und die Steuereinnahmen auf dem historisch einmalig hohen Niveau verblieben, hätten wir in finanzieller Hinsicht mit der Flüchtlingskrise kein Problem.
MONEY: Mit welchem Instrument rechnen Sie zur Bewältigung der Finanzierung am ehesten: Steuererhöhungen, höhere Beiträge oder weitere Schuldenaufnahme?
Raffelhüschen: Ich denke, es wird ein Mix aus diesen Instrumenten sein.
MONEY: Warum?
Raffelhüschen: Weil es dann für die Bevölkerung im Einzelnen nicht so stark spürbar ist und es nicht klar ist, wem die Maßnahme zugeordnet werden kann.
MONEY: Wie ist denn der Flüchtlingszustrom zu finanzieren?
Raffelhüschen: Im "Basisszenario" müssten die Abgaben um 13,9 Prozent erhöht oder die Ausgaben um 11,4 Prozent gesenkt werden. Bei einer Nachhaltigkeitslücke von 31,9 Prozent zwischen diesem und dem Szenario "Flüchtlingszustrom" kämen bei den Abgaben noch einmal 1,5 Prozentpunkte hinzu - bei der Ausgabensenkung wäre es ein zusätzlicher Prozentpunkt. In beiden Fällen sind es 17 Milliarden Euro, die mit Inflationsrate plus 1,5 Prozent jedes Jahr wachsen.
MONEY: Ist in Zeiten niedriger Zinsen - und so wie es aussieht, wird sich auf mittlere Sicht daran nichts ändern - eine weitere Schuldenaufnahme zur Finanzierung der Einwanderung ein gangbarer Weg?
Raffelhüschen: Schulden können Sie immer machen. Aber das sind keine Ausgaben, die einmal anfallen und dann schnell zurückgezahlt sind. Damit würden wir Fehler zu Lasten unserer Kinder machen, die dann dafür zahlen müssten.
MONEY: Um die Zukunft unserer Kinder zu sichern, ist Einwanderung doch ein probates Mittel. Die Flüchtlinge können das deutsche Demografieproblem lösen, indem sie künftig in die sozialen Sicherungssysteme und die Rentenkasse einzahlen. Was ist in der aktuellen Situation hinsichtlich der Rente zu erwarten?
Raffelhüschen: Ich bin da pessimistisch. Die Vorsorge ist und bleibt herausgefordert, wenn es die Politik nicht schafft, die Grundsicherung aus der Rente herauszuhalten. In der Vergangenheit haben wir es oft erlebt, dass Flüchtlinge im Alter von 30 bis 35 Jahren nach Deutschland kamen und dann natürlich noch einmal fünf bis zehn Jahre benötigen, um in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Wie sollen diese Menschen 45 Jahre in die Rentenkasse einzahlen? Das geht doch schlicht nicht.
MONEY: Also ist der Steuerzahler am Ende wieder in der Pflicht?
Raffelhüschen: Ja, wir werden eine Ausweitung der Grundsicherung bekommen, des "Hartz IV für Rentner". Da ist der Steuerzahler wieder gefragt, denn die Grundsicherung im Alter hat ja nichts mit den Rentenbeiträgen zu tun, sondern wird aus den Steuergeldern finanziert. Die Zahl der Bezieher der Grundsicherung wird in 20 bis 40 Jahren merklich ansteigen und damit der Aufwand dafür. Das wird garantiert kommen. Der Flüchtlingszustrom ist für die Rentenkasse nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems - konkret, er ist Teil des stetig wachsenden Problems.
MONEY: Da wirkt die "Rente mit 63" von Arbeitsministerin Andrea Nahles fast zynisch.
Raffelhüschen: Die Nahles-Rente ist zutiefst unsozial und war ohnehin eine Absurdität. Sie wird sich noch als Absurdität hoch zwei entpuppen. Genauso verhält es sich mit dem Mindestlohn.
MONEY: Ist der Mindestlohn, für den auf Seiten der Regierung speziell die SPD gekämpft hat, eine zu hohe Barriere, um den Flüchtlingen Zugang zum Arbeitsmarkt zu verschaffen?
Raffelhüschen: Klar ist doch, dass wir die Leute, die willig sind zu arbeiten und die wir brauchen können, schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren müssen. Da kann es für die Arbeitgeber doch nur von Vorteil sein, wenn sie zumindest temporär den Mindestlohn aussetzen können.
MONEY: Wie lassen sich denn die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren?
Raffelhüschen: Es muss schnell gehen, und der Integrationsprozess muss auf die Qualifikationsstufen hinauslaufen, die wir brauchen. Konkret: auf die Facharbeiter, die wir brauchen. Das ist allerdings nicht zu erwarten. Ich denke, für das Handwerk können wir optimistisch sein, und im Bereich der unqualifizierten Arbeit - zum Beispiel Produktionshelfer oder Mitarbeiter in Sicherheitsdiensten. Eins ist aber auch klar: Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger wird nach oben gehen.
MONEY: Sie plädieren für ein Zuwanderungsgesetz. Wie sähe das konkret aus?
Raffelhüschen: Wir brauchen ein Zuwanderungsgesetz. Natürlich ist das in gewisser Weise ein Diskriminierungsgesetz. Jedes Land der Welt wählt an der Grenze zwischen denen, die es braucht, und denen, die es nicht braucht. Und wenn man diejenigen hereinlässt, die man braucht, kann Zuwanderung einen durchaus positiven Einfluss haben. Etwa in den USA, in Kanada und Australien. Wie bei Deutschland auch handelt es sich bei diesen Staaten um Einwanderungsländer. Nur mit dem Unterschied, dass sich diese Staaten Regeln gegeben haben. Deutschland ist das einzige Einwanderungsland ohne Einwanderungsregeln.
MONEY: Wenn Deutschland ein modernes Einwanderungsgesetz beschließt, rechnen Sie mit einer "fiskalischen Dividende". Was ist darunter zu verstehen?
Raffelhüschen: Wenn Zuwanderung durch ein entsprechendes Gesetz gesteuert würde, ließe sich ohne Weiteres eine fiskalische Dividende erreichen. Damit ist gemeint, dass die Nachhaltigkeitslücke schrumpfen würde, weil die neuen Bürger mehr einzahlen, als sie uns kosten.
MONEY: Lässt sich der Rückgang der Verschuldung durch eine vernünftig gesteuerte Einwanderung beziffern?
Raffelhüschen: Gegenüber dem von uns angenommenen Szenario würde die Nachhaltigkeitslücke um etwa 50 Prozentpunkte auf 217,9 Prozent, gemessen am BIP, zurückgehen. Unter dem Strich sind das etwa 1,2 Billionen Euro. Das ist die steuerliche Dividende, die unter den Bedingungen von qualifizierter Zuwanderung entstehen würde.
MONEY: Halten Sie die Einführung eines Einwanderungsgesetzes für möglich, oder scheitert es vielleicht an der Angst vor der eigenen Courage?
Raffelhüschen: Es macht keinen Sinn, wenn Deutschland weiterhin ständig einen Knicks vor der eigenen Geschichte macht und in Gefühlsduseleien versinkt. Wir sollten rationaler agieren und uns dennoch unserer Geschichte bewusst sein.
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen: Geboren am 7. Oktober 1957 in Niebüll/Nordfriesland, verheiratet, drei Kinder 1983 Studium der Volkswirtschaft mit Abschluss Diplom-Volkswirt an der FU Berlin Seit 1995 Professor für Finanzwissenschaft und Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge, Universitäten Freiburg und Bergen (Norwegen)