Stand: 20.10.2021 | Lesedauer: 6 Minuten
Von Philipp Fritz
Nach dem sogenannten Polexit-Urteil und dem wütenden Auftritt von Premierminister Mateusz Morawiecki im EU-Parlament legt Polen nach: Das Justizministerium in Warschau bereitet eine Klage gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor.
Wegen des Justizabbaus im eigenen Land steht die polnische Regierung seit sechs Jahren in der Kritik. Zuletzt hat das polnische Verfassungsgericht wesentliche Teile der EU-Verträge für nichtig erklärt, auch die, die die Autorität des EuGH behandeln. Ironischerweise will Polen Deutschland jetzt genau vor diesem europäischen Gericht verklagen.
Als einer der Treiber des Justizumbaus in Polen und Befürworter der Klage gegen Deutschland gilt Sebastian Kaleta, seit 2019 stellvertretender Justizminister Polens. Der Jurist ist seit 2019 Mitglied von Solidarisches Polen, einer rechten Kleinstpartei, in einer Koalition mit der PiS.
WELT: Herr Kaleta, während seines Auftritts im EU-Parlament hat Premierminister Mateusz Morawiecki das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts verteidigt und gleichzeitig der EU "Erpressung" vorgeworfen. Die Kommission wiederum scheint nicht von ihrer Haltung abzurücken, dass der Justizabbau in Polen nicht einfach hinnehmbar ist. Wie kann dieser Konflikt jetzt noch aufgelöst werden?
Sebastian Kaleta: Herr Premierminister Morawiecki hat recht, wenn er von "Erpressung" spricht. Wir werden widerrechtlich angegriffen, von einem Justizabbau kann keine Rede sein. Der Kern der Vorwürfe gegen Polen ist das geänderte Verfahren der Ernennung der Richter.
WELT: Auch Sie sprechen von "Erpressung". In der Kommission spricht man davon, Finanzsanktionen durchzusetzen, weil Ihre Regierung Urteilssprüche des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht umsetzt.
Kaleta: Polen ist ein Fürsprecher der Einhaltung der europäischen Verträge. Gerade deswegen können wir es nicht hinnehmen, wenn die Kommission ihr Mandat überdehnt. Das Gleiche gilt für den EuGH. Entsprechend hat das polnische Verfassungsgericht entschieden.
WELT: Es liegt also eigentlich kein Konflikt vor?
Kaleta: Die EU hält sich an doppelte Standards. Andere Länder handeln formal so ähnlich wie wir, aber man drischt nur auf uns ein. In der Verantwortung, ein Problem zu lösen, stehen nicht wir, sondern die Vertreter der EU, die uns angreifen. Das sind vor allem deutsche Politiker, Frau von der Leyen, Herr Weber und viele andere.
WELT: Die von Ihnen erwähnten Politiker sind Deutsche, aber sie vertreten die EU.
Kaleta: Formell ja. Aber es ist doch ein merkwürdiger Zufall, dass es Deutsche sind, die in dieser Operation gegen Polen eine so entscheidende Rolle spielen. Ich sage das nicht einem deutschen Journalisten, um Sie zu ärgern. Das sind nun mal die Fakten. Wenn die Vizepräsidentin des Parlaments, Frau Barley, davon spricht, Polen "auszuhungern", ist das ein Skandal.
WELT: Sie sprach davon, "finanziell auszuhungern". Die Wortwahl war sicher unglücklich, wurde jedoch auch falsch wiedergegeben.
Kaleta: Die EU-Organe und einige Staaten behandeln Polen paternalistisch, unsere Argumente werden nicht mal angehört. Auch das ist ein Beweis für doppelte Standards.
WELT: Sie sprechen von "doppelten Standards". Doch die mit Abstand meisten Experten sagen, dass der Justizabbau in Polen, speziell das Urteil des Verfassungsgerichts vom 7. Oktober, ein in der Rechtsgeschichte der EU einmaliger Vorgang und eine Gefahr für die EU sei. Es handelt sich um internationale wie polnische Experten.
Kaleta: Es gibt auch andere Meinungen. So hat etwa Jean-Eric Schoettl, der ehemalige Sekretär des Verfassungsrates in Frankreich, das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts unterstützt. Deutsche Juraprofessoren haben in einem Brief die Einleitung des Verfahrens durch die Kommission gegen Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2020 kritisiert. Das deutsche und das polnische Urteil sind einander ähnlich, sie verweisen auf die Überschreitung der EuGH-Kompetenzen im Bereich von Artikel 19. Sie schieben dem EuGH in Deutschland doch einen Riegel vor, wenn er seine Kompetenzen überschreitet. Warum sollen wir das nicht auch tun dürfen?
WELT: Lassen Sie uns bei Deutschland bleiben: Ihr Ministerium strebt an, gegen Deutschland vor den EuGH zu ziehen. Was werfen Sie Deutschland vor?
Kaleta: Die Richter an Bundesgerichten werden durch Politiker gewählt. Es handelt sich also um politisierte Gerichte. Das ist Heuchelei. Deutsche halten uns unsere Schwächen vor und verschließen gleichzeitig die Augen vor den Mängeln des Justizsystems zu Hause. Ich darf daran erinnern, dass bei uns bei den Ernennungen die entscheidende Stimme weiterhin die Richter selbst haben.
WELT: Deutsche Politiker und Richter am Bundesverfassungsgericht weisen es zurück, für den Justizabbau in Polen instrumentalisiert zu werden.
Kaleta: Darüber kann ich nur lachen. Warum sollte ein solcher Vergleich nicht zulässig sein? Die Deutschen tun so, als wäre Ihre Rechtskultur mehr wert, übrigens sagen das sogar einige deutsche Juristen im Klartext. Aber diese Zeiten sind vorbei. Sie werden sich damit abfinden müssen, dass jemand wie Donald Tusk, der in ihrem Interesse Politik betreibt, in Polen nichts mehr zu sagen hat. Es darf nicht sein, dass etwas in Deutschland normal ist, in Polen aber skandalisiert wird. In Polen werden Richter von einem Landesjustizrat ernannt, in dem die Richter die Mehrheit darstellen, nicht von Politikern. Das deutsche System ist extrem politisiert. Aber Polen steht am Pranger. Ihre Richter haben auch keine Immunitäten und sie können vom Verfassungsgericht auf Antrag des Bundestages des Amtes enthoben werden. In Polen wäre das undenkbar.
WELT: Sie haben Zweifel an der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards in Deutschland und wollen klagen. Nur warum jetzt? Ist das nicht ein politisches Spiel Ihrerseits?
Kaleta: Bislang hat jeder die Grenzen nationalen Rechts respektiert. Eine Prüfung durch den EuGH war nicht nötig. Jetzt ist es anders. Mit unserem Antrag wollen wir dafür sorgen, dass die gleichen Maßstäbe für alle gelten. Wenn deutsche Politiker die Umsetzung der EuGH-Urteile erwarten, dann sollen sie sie zuerst selbst umsetzen. Da sollen die Deutschen den Richtern selbst die Macht zurückgeben, neue Richter zu ernennen. Das ist ein Test. Im Gegensatz zur Kommission müssen wir uns keine Werkzeuge ausdenken. Uns steht ein gewisses Instrumentarium zur Verfügung. Dazu gehört es, dass der EuGH auf unseren Antrag den Rechtsstaat in Deutschland prüft. Diesen Antrag muss die polnische Regierung genehmigen.
WELT: Dabei hat Ihr Verfassungsgericht doch gerade die Autorität des EuGH grundsätzlich in Frage gestellt. Wenn Sie ein Urteil des europäischen Gerichts zu Deutschland anerkennen, werden Sie dann auch Urteile zum Justizumbau in Polen endlich umsetzen?
Kaleta: Unser Antrag soll Deutschland zum Gegenstand haben. Wir wollen gleiche Standards für alle in der EU und dem EuGH Grenzen aufzeigen, wo Grenzen verlaufen.
Quelle: welt.de