Von Philipp Fritz
Korrespondent in Warschau
Stand: 06.04.2023 07:53 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten
Es war der Präsident, der das Thema diesmal auf die Tagesordnung brachte: "Es besteht immer die Möglichkeit, sich an der nuklearen Teilhabe zu beteiligen", sagte Andrzej Duda im vergangenen September in einem Interview mit der regierungsnahen "Gazeta Polska". Russland hatte damals die Drohung ausgesprochen, die es jetzt wahr macht: Atomwaffen in Belarus zu stationieren.
Das Modell der nuklearen Teilhabe nach deutschem Vorbild würde die Stationierung von US-Atomwaffen in Polen vorsehen, die im Ernstfall von polnischen Kampfjets abgeworfen werden. Für Warschau wäre dies eine zusätzliche Sicherheitsgarantie und Abschreckung gegen Moskau.
"Wir haben mit führenden amerikanischen Politikern darüber gesprochen, ob die Vereinigten Staaten eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen", so Duda. Wenig später sprach auch Jaroslaw Kaczynski, mächtiger Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), davon, dass eine Aufnahme Polens in die nukleare Teilhabe "sehr gut" wäre. Die US-Regierung zeigte sich damals noch zurückhaltend.
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Polnische Diplomaten und Experten schließen indes nicht aus, dass es mittelfristig doch zu einer Stationierung von US-Atomwaffen in Polen kommen wird. Einer von ihnen ist Artur Kacprzyk, Atomwaffenexperte der staatsnahen Denkfabrik PISM, dem polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten. Kacprzyk verweist darauf, dass die Bedingungen sich geändert haben.
"Das Interesse an der Einbeziehung in die nukleare Teilhabe wurde in Erklärungen der polnischen Führung seit der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 deutlich. Doch solche Ideen stießen innerhalb der Nato auf starken Widerstand", erklärt der Experte WELT.
Tatsächlich aber wird bisweilen auch im Ausland wahrgenommen, dass sämtliche polnischen Parteien sich für eine Integration in die nukleare Teilhabe aussprechen wie auch die Mehrheit der Menschen im Land - anders als in Deutschland, wo die Politik immer wieder mit dem Programm fremdelt. Geschätzt lagern noch 20 US-Atombomben vom Typ B61 auf dem Luftwaffen-Fliegerhorst in Büchel in Rheinland-Pfalz. Im Ernstfall würden deutsche Tornado-Jagdbomber diese Waffen ins Ziel fliegen. 2020 regte die damalige amerikanische Botschafterin in Polen, Georgette Mosbacher, sogar an, US-Atomwaffen von Deutschland nach Polen zu verlagern.
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In Warschau rechnet man mit einer Rückkehr zu solchen Tönen spätestens nach den Präsidentschaftswahlen in den USA 2024, "möglicherweise sogar dann, wenn Biden für eine zweite Amtszeit Präsident wird", sagt Kacprzyk. Polnische Experten verweisen auf eine Entlastung Washingtons und darauf, dass sich die Amerikaner so besser auf den pazifischen Raum und China konzentrieren könnten.
"Durch die russische Invasion der Ukraine und die nukleare Entscheidung im Fall von Belarus ändert sich die strategische Lage", sagt Justyna Gotkowska WELT. "Die Ausweitung der nuklearen Teilhabe auf Polen sollte deswegen in der Nato ernsthaft diskutiert werden", ist die stellvertretende Direktorin des Zentrums für Oststudien überzeugt.
Polen sieht sich seit jeher von Russland bedroht und erhöhte deswegen schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Verteidigungsausgaben signifikant, baute die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den USA aus und setzte eine Stationierung konventioneller Nato-Streitkräfte im Land durch. US-Atomwaffen allerdings wären ein klarer Verstoß gegen die Nato-Russland-Grundakte, gegen die Moskau bereits mehrfach verstoßen hat.
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Aus polnischer Sicht ist diese seit dem vergangenen Jahr deshalb Makulatur. Andere Nato-Staaten aber wollen an der Absichtserklärung festhalten, obwohl Russland das offensichtlich nicht mehr tut. Die Führung in Warschau ist davon überzeugt, dass es notwendig ist, Russland noch robuster abzuschrecken, um eine Eskalation des Krieges in der Ukraine zu verhindern.
Wenn der Westen nicht energisch auf russische Drohungen reagiere, so Experte Kacprzyk, könnte dies in Moskau als Zeichen der Schwäche und Einladung zu weiteren Einschüchterungsversuchen gegenüber dem Bündnis verstanden werden. "Gegenwärtig schreckt die Nato Russland wirksam von Angriffen auf Bündnismitglieder ab, aber sie sollte die Abschreckung weiter verstärken. Der Einmarsch in die Ukraine zeigt, wie sehr sich Putin verkalkulieren kann", sagt Kacprzyk.
Wie Präsident Duda bestätigt hat, sollen Gespräche zu dem Thema zwischen Washington und Warschau bereits geführt worden sein. Es kursieren Gerüchte, dass Polen in einem ersten Schritt angeboten hat, sich an der nuklearen Teilhabe in Europa zu beteiligen, ohne eine Stationierung von Atomwaffen auf polnischem Territorium zu fordern.
Warschau schafft aktuell 32 hochmoderne F-35-Tarnkappen-Jets aus den USA an. Diese sind für die B61-Bomben zertifiziert und könnten in Deutschland oder Italien die nukleare Teilhabe sicherstellen. Für die Bundesregierung wäre das bequem. Schließlich müssen die veralteten Tornados bald außer Dienst gestellt werden. Polen dürfte das Thema auf dem Nato-Gipfel im litauischen Vilnius im Juli zur Sprache bringen.
Immer wieder werden auch Stimmen laut, die ein eigenes polnisches Atomwaffenprogramm fordern. Selbst Parteichef Kaczynski liebäugelte schon mit einer solchen Idee, wenn er sie auch sogleich als wenig realistisch bezeichnete. Experte Kacprzyk hält so etwas nur für denkbar, sollten die USA ihr Engagement in der Nato "drastisch reduzieren".