Palmer, Kubicki, Wagenknecht Vom Partei-Establishment gern als "rechts" abqualifiziert

Stand: 24.01.2022 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Susanne Gaschke
Reporterin

Ob Palmer, Kubicki oder Wagenknecht: Politiker, die ihre Meinung ohne Rücksicht auf parteiinternen Opportunismus vertreten, erfahren harten Gegenwind aus dem eigenen Lager - durch die Diffamierung als "rechts" oder gar Ausschlussforderungen. Dabei ist ihr Widerspruch wichtig. Bringen Unruhe in ihre Parteien: Boris Palmer (Grüne, l.), Wolfgang Kubicki (FDP) und Sahra Wagenknecht (Linke)
Quelle: picture alliance/ULMER Pressebildagentur; Martin U.K.Lengemann; Marlene Gawrisch

Was haben Boris Palmer, Sahra Wagenknecht, Wolfgang Bosbach, Thilo Sarrazin und Wolfgang Kubicki gemeinsam? Sie sind politisch furchtlos. Oder, wie Kubicki es ausdrücken würde: Sie sind keine "Karrierefeiglinge". Sie machen den Mund auf und bringen Unruhe in ihre Parteien.

Boris Palmer, 49, ist seit 2006 grüner Oberbürgermeister von Tübingen. Ins Amt wurde er mit 50,4 Prozent gewählt, bei seiner Wiederwahl 2014 erhielt er 61,7 Prozent der Stimmen. Palmer hat Erfolge in der lokalen Klimapolitik vorzuweisen, und es ist ihm gelungen, die Bevölkerung für eine Verkehrspolitik zu gewinnen, die auf Alternativen zum Auto setzt.

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Gesellschaftspolitisch ist der Grüne ein Law-and-Order-Mann, der pöbelnden Studenten oder antisozialen Fahrradfahrern gern selbst Bescheid sagt. Palmer hat sich immer wieder kritisch zu Fragen der Zuwanderung geäußert und das Fehlverhalten mancher junger männlicher Migranten klar benannt - Letzteres oft in robuster Sprache.

Was seine Wähler offenbar als realistisch schätzen, gilt vielen seiner Parteifreunde als rassistisch. Gerade die jungen Grünen haben sich auf Palmer eingeschossen; im Bundestagswahlkampf machte die Spitzenkandidatin Annalena Baerbock ihnen ein Zugeständnis und forderte den Parteiausschluss des erfolgreichen Kommunalpolitikers. Palmer sieht in der Auseinandersetzung um seine Person einen Generationen- und Kulturkampf, in dem jugendliches Jakobinertum immer mehr an Boden gewinnt.

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In der vergangenen Woche erklärte der Oberbürgermeister, dass er an einer parteiinternen Urwahl zur Kandidatenaufstellung nicht teilnehmen werde. Schließlich sei es absurd, einen Kandidaten zu nominieren, gegen den gerade ein Parteiausschlussverfahren laufe.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Palmer zieht sich ganz zurück - und die Grünen verlieren 2022 mutmaßlich ihren letzten relevanten Oberbürgermeisterposten in Baden-Württemberg. Oder er findet die nötigen finanziellen Mittel und die Unterstützung aus der Stadtgesellschaft, um als unabhängiger Kandidat anzutreten. Dann dürfte er die Wahl gewinnen.

Sie lehrt Sprechzettelpolitiker das Fürchten

Sahra Wagenknecht, 52, hat es in der Linkspartei mit einer ähnlichen Frontstellung zu tun wie Palmer bei den Grünen. Die promovierte Volkswirtin, ehemalige Parteivize und Ex-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, ist in einer Tiefe gebildet, die Sprechzettelpolitiker in Talkshows das Fürchten lehrt. Außerdem schreibt sie politische Bücher, die Bestseller werden; das jüngste heißt "Die Selbstgerechten".

Dieses Profil würde schon ausreichen, um den Neid von Parteifreunden zu wecken. Aber Wagenknecht drückt auch immer wieder auf die Schmerzpunkte der Linkspartei. Sie weist darauf hin, dass unbegrenzte Zuwanderung und finanzierbarer Sozialstaat in ein Spannungsverhältnis geraten können, und sie kritisiert die politisch korrekte Attitüde vieler Parteifreunde.

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"Nazis sind gegen Zuwanderung?", schreibt sie. "Also muss jeder Zuwanderungskritiker ein verkappter Nazi sein! … Wer nicht für uns ist, ist ein Rechter". Es sei kein Wunder, dass der Begriff "links" heute für viele Menschen nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern für Selbstgerechtigkeit stehe.

Die so gescholtenen Parteifreunde betrachteten Wagenknechts jüngstes Buch nicht als Herausforderung zur konstruktiven Debatte, sondern strengten mitten im Bundestagswahlkampf 2021 ein Parteiausschlussverfahren gegen sie an. Nachdem das Landesschiedsgericht in Nordrhein-Westfalen dieses Ansinnen abgelehnt hatte, gingen ihre Gegner in Revision, inzwischen liegt der Vorgang beim Bundesschiedsgericht.

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Dass Wagenknecht mit ihrer Interpretation von "links" enorm populär ist, während ihre Partei bei der Bundestagswahl keine fünf Prozent erreichte und nur dank dreier direkt gewählter Abgeordneter wieder in den Bundestag einzog, bringt ihre Gegner nicht ins Grübeln.

Vielmehr geben manche ihr die Schuld an dem katastrophalen Wahlergebnis: Mit ihrem Buch habe sie Streit in die Partei getragen. "Es gibt bei uns eine starke Binnenorientierung", sagt Wagenknecht. "Viele aktive junge Leute haben ein ganz anderes Verständnis davon, was heute ‚links' sein soll als ich. Sie sind nicht die Mehrheit, aber sie prägen das innerparteiliche Klima."

Vom Partei-Establishment gern als "rechts" abqualifiziert

Wolfgang Bosbach (CDU)
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT/MARLENE GAWRISCH

Der besonders bei politischen Führungen beliebte Glaubenssatz "Die Wähler honorieren keinen Streit" sei fragwürdig, sagt der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach, 69, "vor allem dann, wenn er dazu genutzt wird, um notwendige innerparteiliche Diskussionen im Keim zu ersticken".

Wenn eine Partei Positionen vertrete, die von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung mit respektablen Argumenten abgelehnt würden, dann sei die Partei gut beraten, dieses Stimmungsbild nicht zu ignorieren, sondern über Pro und Contra offen zu debattieren. Sonst würden sich viele von ihr abwenden. Sowohl SPD als auch CDU haben diese Abwendung in den vergangenen Jahren erlebt.

Bosbach pflegte in seiner aktiven Zeit ein höfliches Rebellentum, er ließ nie Zweifel an seiner unverbrüchlichen Loyalität zur CDU aufkommen, hatte aber auch nie die Absicht, "als Abgeordneter zum Regierungssprecher zu mutieren". Dem ersten Griechenland-Hilfspaket 2010 stimmte er trotz schwerer Bedenken zu - daraus dürfe aber keine "Rettungsroutine" werden, sagte er.

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Bei folgenden Rettungsbeschlüssen votierte er mit Nein. Er äußerte sich kritisch über den Umbau der EU zu einer Schuldenunion und später über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Mit diesen Positionen wurde er zu einem beim Publikum beliebten Talkshowgast. Bosbach konnte sich seine eigene Meinung leisten - er war fest an der Parteibasis verankert und in seinem Wahlkreis absolut unangefochten. Die CDU hat nie versucht, ihren kritischen Parteifreund loszuwerden. Aber Karriere machte der Abgeordnete nicht mehr.

Thilo Sarrazin
Quelle: pa/dpa/Jörg Carstensen

Thilo Sarrazin, 76, ist wie Sahra Wagenknecht ein Bestsellerautor. In sozial- und migrationspolitischen Fragen ging er mit der SPD auf Konfrontationskurs. Anders als Palmer und Wagenknecht ist bei ihm die Entscheidung gefallen: Er wurde 2021 aus seiner Partei ausgeschlossen - nach einem mehrjährigen, quälenden Verfahren.

Sarrazin hatte sich bis zuletzt gegen den Rauswurf gewehrt; er empfindet sich bis ins Mark als Sozialdemokrat. Die Bücher des ehemaligen Berliner Finanzsenators sind von einem schwierigen Untergangston geprägt ("Deutschland schafft sich ab"), aber sie stellen Fragen, die die sozialdemokratische Klientel existenziell betreffen. Statt auf diese Fragen andere Antworten zu suchen, als der lästige Genosse Sarrazin sie gab, kündigte die SPD lieber dem Fragesteller.

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Während Palmers, Wagenknechts, Bosbachs und Sarrazins Kritik an ihren Parteien von deren Establishment gern als "rechts" abqualifiziert wird (dann erübrigt sich für sie offenbar jede Diskussion), ist die Lage bei Wolfgang Kubicki, 69, anders.

Der FDP-Politiker und Bundestagsvizepräsident ist ein derart lupenreiner Linksliberaler, dass selbst der in Corona-Zeiten von manchen Medien unternommene Versuch, ihn in die Nähe von rechten "Querdenkern" zu rücken, hilflos wirkte.

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Wegen seiner klaren Sprache und seiner Unfähigkeit, auf einen Witz zu verzichten, galt der Anwalt innerhalb der FDP lange als der "Quartalsirre aus dem Norden". Doch 2012 errang die FDP in Schleswig-Holstein bei den Landtagswahlen mit 8,2 Prozent ein hervorragendes Ergebnis - während die Bundespartei 2013 aus dem Bundestag flog. "Da ging ein Nachdenken los, ob sie in Berlin nicht doch etwas mehr auf mich hören sollten", sagt Kubicki.

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Quelle: WELT