FOCUS-online-Gastautorin Julia Ruhs
Samstag, 10.02.2024, 17:28
Julia Ruhs.
"Im Prinzip spielt es keine Rolle mehr, ob die Journalisten die Wahrheit reden, denn wir alle hier fühlen die Wahrheit!" Diese Sätze erreichten mich vor einigen Tagen in einer Mail, als Reaktion auf meine letzte Kolumne.
Geschrieben hat sie eine 55-jährige Frau aus der Nähe von Berlin. Ihre Jugend habe sie in der DDR verbracht, schildert sie mir. Die Wende sei für sie ein großes Glück gewesen, aber jetzt sei es wieder genau wie damals. "Wir sind schon wieder da angekommen, wo wir vor 35 Jahren schon mal waren."
Sie "fühle" die Wahrheit, dieser Satz interessierte mich vor allem. Auch wenn ich Diktaturvergleiche für überzogen halte, irgendetwas muss sich für sie anfühlen wie früher, zu ihren Jugendzeiten. Ich beschloss, sie anzurufen.
Schließlich ist sie längst nicht die Einzige, die so denkt. Mir sind solche Aussagen schon häufiger begegnet, von Menschen, die überzeugt davon sind, dass in Deutschland gerade neue böse Geister auferstehen. Das Interessante: Mit den bösen Geistern meinen sie nicht die AfD. Es sind vielmehr Menschen, die sich vorstellen können, die AfD zu wählen.
Es ist 8 Uhr morgens, als ich bei der Frau in der Nähe von Berlin anrufe. Sie ist Frühaufsteherin. Von Beruf ist sie Goldschmied. Schon ihr Vater war Goldschmied, in ihrer ganzen Familie gibt es viele Handwerker, Uhrmacher, Graveure. Ihr Mann ist Maurermeister, zwei Kinder haben sie. Normale Leute, sagt sie.
Sie erzählt, dass sie während der Schulzeit das Wesen der DDR hautnah miterlebt habe. "Diesen aufgezwungenen Kommunismus, dieses Eingezwängt-sein in Denkstrukturen. Man sollte das glauben und denken, was uns eingetrichtert wurde." Es sei ein offenes Geheimnis gewesen, dass die Staatsmedien die Menschen belügen. Ihnen das gewünschte Denken aufzuzwingen, hätten sie aber bei vielen DDR-Bürgern nicht geschafft.
Sie war 20, dann kam der Mauerfall. Gerade war sie fertig geworden mit ihrer Goldschmied-Ausbildung. Die Wende war eine riesige Chance, erinnert sie sich. "Plötzlich hatten wir die Möglichkeit, uns durch unsere Arbeitskraft etwas zu erschaffen." Seitdem habe sie im Leben insgesamt sehr viel Glück gehabt, findet sie.
Aber etwas von damals sei nun zurückgekehrt. Sie habe dieses Gefühl wieder, spüre eine Unfreiheit, wie vor der Wende. "Es wird uns aufgezwungen, was wir zu denken, zu reden, zu essen, zu tun haben." Man werde zu einer gewissen Unmündigkeit erzogen, so, wie es auch in der DDR gewesen sei.
"Der Staat kümmert sich um alles, Hauptsache, ihr spurt. Hauptsache, ihr arbeitet, dass wir was für den Klimaschutz tun, das Geld umverteilen können." Umverteilen auch an die, die keine Lust auf Arbeit haben, das stört die Frau am Telefon besonders. Dass sich andere auf ihrer Arbeit ausruhen.
Viele im Osten hätten dieses Bauchgefühl, so wie sie. Sie seien eben besonders sensibel für solche Entwicklungen. "Wir haben viel mehr diese Antennen, was wirklich um uns herum passiert."
Wie es wirklich ist, stehe nämlich nicht in den Medien. Vielmehr werde man dauerberieselt, von wegen "die AfD ist scheiße, das sind alles Nazis, ihr solltet alle gendern." Und weiter sagt sie trotzig: "Aber wir lassen uns nicht irgendein Gedankengut überstülpen. So tickt der Osten."
Wenn die Frau am Telefon Artikel in Onlinemedien liest, dann finden sie und ihr Mann die Leserkommentare darunter am wichtigsten. "Weil wir damit einschätzen, wie richtig wir mit unserem Gefühl liegen. An erster Stelle ist nämlich das Gefühl, aber an zweiter Stelle kontrolliere ich das Gefühl, wie realistisch es ist. Ich bin auch in der Lage, es zu korrigieren."
Sie glaubt, dass ihr Bauchgefühl im Jahr 2015 mit der Flüchtlingskrise wiedergekommen ist. Danach habe sie wieder das Gefühl gehabt, sich anpassen zu müssen. Sich neuen Denkstrukturen fügen zu müssen und Probleme zu bekommen, wenn sie ausbricht.
Die Corona-Pandemie habe das alles noch einmal verstärkt. Grundrechte wurden ausgehebelt, meint sie. "Die Demonstrationsfreiheit, die Unversehrbarkeit der Wohnung. Ich habe mich gefragt, wo die Freiheiten hin sind, für die wir doch gekämpft hatten."
Plötzlich habe sie auch eine neue Denunziationskultur erlebt. Nachbarn, die sich gegenseitig melden sollten, wenn sie gegen Coronaregeln verstießen. Das Gefühl, überwacht zu werden. So wie damals, als bei ihrer Jugendweihe - dem DDR-Pendant zu den christlichen Festen - ein stiller Zuhörer von der Stasi in die Gaststätte hinein platziert wurde.
Die Frau am Telefon ist in einer Welt aufgewachsen, in der es die mit der richtigen, sozialistischen Gesinnung gab und die mit der geächteten, der falschen. Sie wundert sich bis heute, warum gerade sie Abitur machen durfte, war ihr Vater als Selbständiger doch eigentlich "böser Kapitalist". Eine Welt aus Gut und Böse - die Bösen seien jetzt die AfD und deren Wähler, sagt sie.
Was sie sich wünscht: "Dass wieder unterschiedliche Meinungen vorkommen dürfen, ohne dass jemand sagt: 'Igitt, du bist Grüner oder igitt, du bist AfD-Wähler'. Es muss wieder auf Augenhöhe geredet werden. Mir passt auch die Ansicht von einigen, meiner Nachbarn oder Familienmitgliedern nicht, aber trotzdem sitzen wir an einem Tisch, trinken Kaffee und diskutieren. Da müssen wir wieder hinkommen, dass auch in der Zeitung Dinge, die nicht populär sind, die eine bestimmte Bevölkerungsgruppe nicht hören will, wieder diskutiert werden und man dafür nicht an den Pranger gestellt wird."
Ihre politische Heimat sieht sie eigentlich in der bürgerlich-liberalen Mitte, bei der FDP. Zumindest früher, schiebt sie hinterher. "Ich bin da stehen geblieben, habe mich gar nicht wegbewegt. Aber die Parteien haben sich wegbewegt. Also was ist passiert? Ich bin jetzt rechts. Obwohl ich meine Meinung nie geändert habe."