FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Montag, 30.03.2020, 13:10
Sein Sohn ist tot. Gestorben am 29. September 2017 in Wittenberg (Sachsen-Anhalt). Marcus Hempel wurde nur 30 Jahre alt. Er starb durch einen Faustschlag ins Gesicht.
Mediziner stellten eine "schwere stumpfe Gewalteinwirkung gegen den Kopf" fest, die zum Bruch des Schädels führte. Die Wunde am Unterkiefer des Opfers rühre von einem Schlag, der "mit erheblicher Wucht ausgeführt" wurde, heißt es im Obduktionsbericht. Das Opfer sei "ohne jegliche Abwehrreaktion zu Boden gestürzt" und verstorben.
Der Mann, der Marcus Hempel den tödlichen Schlag versetzt hat, heißt Sabri H. Er stammt aus Syrien und ist heute 20 Jahre alt. Zur Tatzeit war er 17. Deshalb landete der Fall vor der Jugendstrafkammer des Landgerichts Magdeburg.
Diese Kammer hat nun, zweieinhalb Jahre nach der Tat, ein bemerkenswertes Urteil gegen Sabri H. gefällt: Zwei Jahre Haft auf Bewährung. Hinzu kommen 120 Arbeitsstunden.
Für das angeklagte Delikt "Körperverletzung mit Todesfolge" sieht das Gesetz eine Gefängnisstrafe "nicht unter drei Jahren" vor, eine Haft-Höchstgrenze wird nicht genannt. Dies gilt allerdings nur für Erwachsene. Im Jugendstrafrecht können Gerichte abweichende - meist mildere - Sanktionen aussprechen, wobei auch lange Haftstrafen möglich sind.
Karsten Hempel ist der Vater des Opfers. Als er von dem Urteil gegen Sabri H. erfuhr, verlor er den Boden unter den Füßen. "Ich hätte heulen können vor Wut", sagte er zu FOCUS Online. "Das hat nichts mehr mit Recht und Gesetz zu tun. Und mit Gerechtigkeit schon gar nicht."
Der 55-Jährige, von Beruf Bauleiter, kritisiert die Gerichtsentscheidung hart: "Solche Urteile sind Freifahrtsscheine für Täter und animieren zu noch mehr Verbrechen. Sie haben jedenfalls keine abschrecke Wirkung." Die Richter und Staatsanwälte "sollten sich mal fragen, wie sie handeln würden, wenn es einen Angehörigen aus ihrer Familie getroffen hätte".
Er betont, dass ihm "die Herkunft, der Glaube und die Nationalität des Täters von Anfang egal waren". Hempel: "Mir ging es einzig und allein darum, dass der Mann für sein schweres Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird. Aber das ist hier fatalerweise nicht passiert."
Eigenen Angaben zufolge hat Hempel nach Bekanntwerden des Urteils mehr als 200 Anrufe und E-Mails aus ganz Deutschland erhalten. Die Menschen würden ihr Unverständnis über das Urteil des Magdeburger Landgerichts äußern und ihn ermutigen, weiterzukämpfen. Auch in den sozialen Netzwerken wird der Richterspruch massiv kritisiert.
Hempel zu FOCUS Online: "Der Prozess hat viel Kraft gekostet. Aber wir werden Revision beim Bundesgerichtshof einlegen. Ich hoffe, dass es dann ein anständiges und faires Verfahren gibt."
Aus seiner Sicht hätten weder Staatsanwaltschaft noch Gericht "ernsthaftes Interesse an der Wahrheitsfindung" gehabt, moniert der Vater. Das Verfahren sei nur betrieben worden, um den Schein der Rechtsstaatlichkeit zu wahren. "Für mich war es ein reiner Schauprozess. Dass es zu einem solch lächerlichen Urteil kommen würde, hatte ich fast befürchtet."
So habe er während des Prozesses den Eindruck gewonnen, der Staatsanwalt trete nicht für die rückhaltlose Aufklärung des Verbrechens und eine angemessene Bestrafung des Täters ein. "Auf mich wirkte er wie der zweite Verteidiger des Beschuldigten", so Karsten Hempel zu FOCUS Online.
Außerdem sei das Motiv des Täters nicht ausreichend ermittelt worden. Gleiches gelte für die widersprüchlichen Aussagen der Kumpels von Sabri H., die mit am Tatort waren. Das Gericht sah das offenkundig anders. Sonst hätte es mit Sicherheit anders entschieden.
Unbegreiflich für den Vater bleibt auch der schnelle, für ihn völlig überraschende Termin der Urteilsverkündung. Laut Ladungsliste des Gerichts waren für April und Mai noch fünf Verhandlungstage angesetzt, über weitere Termine im Juni sei bereits gesprochen worden.
Doch schon am vergangenen Donnerstag fiel das Urteil. Vorausgegangen war eine Verständigung zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und dem Angeklagten. Grundlage der Übereinkunft war wohl, dass Sabri H. doch noch ein Geständnis abgelegt hatte, nicht vorbestraft ist und über eine "günstige Sozialprognose" verfügt, wie es auf Juristendeutsch heißt.
"Wir haben dieser Verständigung heftig widersprochen", so Karsten Hempel, "genützt hat es nichts".
Alle Hoffnungen des Vaters ruhen nun auf dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der über die Revision entscheiden wird. Wer die Ermittlungsakten zu dem Tötungsverbrechen liest, kann die Hoffnungen gut nachvollziehen.
Rückblick. 29. September 2017, nachmittags kurz vor drei. Marcus Hempel und eine Bekannte radelten zum Einkaufszentrum "Arsenal Wittenberg". Marcus, der Instandhaltungsmechaniker gelernt hat und jahrelang auf Montage in ganz Deutschland unterwegs war, will sich das Computerspiel "Fifa 18" kaufen.
Kurz vor dem Markt begegneten sie dem Syrer Sabri H., den Marcus Hempel aus der Nachbarschaft kennt und mit dem er schon einmal Zoff hatte. Unvermittelt zeigte der 17-Jährige den beiden Radfahrern seinen ausgestreckten Mittelfinger. Anschließend folgte er ihnen zum Einkaufszentrum, wo die beiden ihre Fahrräder anschlossen.
Sabri H., der mittlerweile drei Landsleute an seiner Seite hatte, rief Marcus Hempel und seiner Begleiterin laut Anklageschrift hinterher: "Habt ihr ein Problem?" oder "Wollt ihr ein Problem haben?" Die beiden drehten sich um und liefen zu dem Syrer, um ihn zur Rede zu stellen.
Hempels Begleiterin sagte den Männern, wenn es ihnen in Deutschland nicht gefalle, sollen sie sich "verpissen". Es kam zum Wortgefecht, dann schubsten sich Sabri H. und Marcus Hempel. Dessen Bekannte versuchte, sich zwischen die Kontrahenten zu stellen, Hempel boxte mit der rechten Hand in Richtung des Syrers, ohne ihn wirklich zu treffen.
Laut Anklage war Sabri H. nunmehr "derart erbost, dass er sich entschloss, eine endgültige Klärung der Auseinandersetzung herbeizuführen, bei der er als eindeutiger Sieger hervorgehen wollte".
"Er stürzte sich deshalb wütend mit geballter Faust in Richtung des Geschädigten", so die Staatsanwaltschaft. Marcus Hempel "bewegte sich rückwärts, um dem Angeschuldigten auszuweichen". Als Hempel "bereits drei Schritte rückwärtsgegangen war, versetzte der Angeschuldigte dem Geschädigten einen wuchtigen Faustschlag an das Kinn". Das Opfer wurde "sofort bewusstlos", stürzte auf den Hinterkopf und verstarb "trotz operativen Eingriffs" noch am selben Abend.
Die Begleiterin des Opfers sagte später bei der Polizei aus, die vier Syrer hätten über den am Boden Liegenden gelacht. "Am meisten hat der Beschuldigte gelacht. Alle sind dann abgehauen."
Bei ihren Ermittlungen konnten sich die Behörden auf einen Film aus der Überwachungskamera des Einkaufsmarktes stützen, die auf den Eingangsbereich gerichtet war. Die relativ klaren Bilder zeigen den Tathergang von Anfang bis Ende aus der Vogelperspektive.
FOCUS Online liegt eine Verfügung der Staatsanwaltschaft Magdeburg vom 23. Oktober 2018 vor. Gut ein Jahr nach dem Tötungsdelikt fasste die zuständige Oberstaatsanwältin das wesentliche Ermittlungsergebnis zusammen.
Sinngemäß schrieb sie, dass der Beschuldigte Sabri H. nachweislich lüge und seine Angaben zum Tathergang nicht stimmen können. So behauptete er, Marcus Hempel habe ihn zuerst "mit der rechten Faust ins Gesicht geschlagen". Daraufhin habe er den Mann "zurückgestoßen". Hempel habe weiter versucht, ihn zu boxen, sei dabei rückwärtsgegangen und "aus der Bewegung heraus zu Fall gekommen".
Die Oberstaatsanwältin notierte, diese Version könne nicht stimmen. Das rechtsmedizinische Gutachten belege zweifelsfrei, dass Marcus Hempel durch einen brachialen Fausthieb aus dem Leben gerissen wurde. Dies würden "die Videoaufnahmen bestätigten".
Laut Einschätzung der Juristin hat der damals 17-jährige Syrer auch nicht in Notwehr gehandelt. Selbst wenn Marcus Hempel versucht haben sollte, Sabri H. irgendwie zu attackieren - er befand sich bereits auf dem Rückzug. "Der Beschuldigte folgte ihm jedoch", so die Oberstaatsanwältin, und "versetzte ihm einen Faustschlag in die Kinngegend".
Dass Marcus Hempel seinen Widersacher eben gerade nicht schwer verletzen wollte, machte sie an einem weiteren Detail fest: Hempel hielt während des Geschehens ein leere Bierfalsche in der linken Hand, die er schon auf dem Fahrrad bei sich hatte. Problemlos hätte er die Flasche als Waffe gegen den jungen Syrer einsetzen können. Die Tatsache, dass er dies nicht getan hat, spricht laut der Oberstaatsanwältin dafür, dass er Sabri H. nicht ernsthaft habe wehtun wollen.
Der Syrer hätte in jedem Fall "wesentlich mildere Mittel" zur Beendigung des Streits anwenden können. Er hätte den 30-Jährigen wegschieben oder ihm ausweichen können, so die Vertreterin der Anklagebehörde.
Unstrittig sei auch, "dass die Auseinandersetzung ursprünglich von dem Beschuldigten ausgegangen ist". Zur Erinnerung: Er hatte Marcus Hempel und seiner Bekannten provozierend den Stinkefinger entgegengereckt. Dass er die beiden bis zum Einkaufszentrum zurückverfolgte, lasse darauf schließen, "dass er die Auseinandersetzung mit dem Geschädigten suchte".
Obwohl er zur Tatzeit erst 17 war, habe Sabri H. die Folgen seines Handelns erkennen müssen. "Auch in diesem Alter ist grundsätzlich die Fähigkeit vorhanden, sich über die Gefährlichkeit eines kräftigen Faustschlags ins Gesicht einer anderen Person bewusst zu sein", notierte die Oberstaatsanwältin.
Unter Verweis auf die Biografie des Beschuldigten warnte sie vor einer möglichen Fluchtgefahr und regte "den Erlass eines Haftbefehls" an - allerdings lehnte das zuständige Gericht den Antrag ab, der Täter saß nicht einen Tag im Gefängnis.
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Nach FOCUS-Online-Informationen kam Sabri H. im Juli 2015 mit Hilfe eines Schleusers nach Deutschland, er zahlte dafür 2500 US-Dollar. Bereits im Herbst 2014 war er laut eigenen Angaben zusammen mit seinen Eltern, einem Bruder und zwei Schwestern aus Syrien in die Türkei geflohen. Von dort aus habe er sich nach ein paar Monaten allein auf den Weg gemacht. Über die Stationen Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn erreichte er die Bundesrepublik.
Mit Bescheid vom 27. Oktober 2016 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) den Asylantrag von Sabri H. ab, gewährte ihm jedoch subsidiären Schutz. Dieser Schutz kommt immer dann in Frage, wenn dem Betroffenen weder eine Anerkennung als Flüchtling noch die Asylberechtigung zusteht, ihm im Herkunftsland jedoch ernsthafter Schaden droht. Später reisten auch die Eltern von Sabri H. nach Deutschland ein. Die Familie lebt in Sachsen-Anhalt.
In der Verfügung der Magdeburger Oberstaatsanwältin vom 23. Oktober 2018 findet sich ein bemerkenswerter Satz. Ein Satz, der im Nachhinein seltsam grotesk, geradezu zynisch klinkt. Er lautet:
"Es ist eine nicht geringe Jugendstrafe zu erwarten."
Quelle: focus.de vom 30.03.2020