Nach dem Truppenabzug Die neuen Player in Afghanistan

Stand: 31.07.2021 07:34 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten

Von Pavel Lokshin

Kaum hat der Westen mit seinen Truppen Afghanistan verlassen, rücken die Taliban vor - und es stehen zwei Großmächte bereit, um mit den potenziellen neuen Herrschern gute Beziehungen aufzubauen. Und auch ein Nato-Land will sich stärker engagieren. Von großer geostrategischer Bedeutung: Afghanistan
Quelle: Reuters; Montage: Infografik WELT

Nach 20 sieglosen Jahren ziehen sich die westlichen Truppen - auch die Bundeswehr - aus Afghanistan zurück und hinterlassen ein Machtvakuum. Wie in den 1990er-Jahren werden die radikal-islamischen Taliban dieses ausnutzen.

Das bedeutet aber nicht, dass Afghanistan nun ein isolierter Steinzeitislamstaat wird. Das Land ist geostrategisch viel zu wichtig. Deshalb stehen nach dem Abzug des Westens schon die nahen Großmächte Russland und China bereit. Und auch die Türkei will eine neue wichtige Rolle spielen.

USA/EU

Schon jetzt kontrollieren die Taliban die Hälfte der Bezirke Afghanistans. Schon in wenigen Monaten könnten sie die Macht im ganzen Land übernehmen. Hunderte afghanische Soldaten, die von den Amerikanern trainiert wurden, flüchteten bereits aus dem Land. Mit der "Operation Allies Refuge" wollen die Amerikaner nun vor der Abzugsdeadline am 31. August mindestens 20.000 afghanische Übersetzer und Helfer evakuieren.

Nach dem Abzug wird es für Kabuls Armee keine regelmäßige Luftunterstützung mehr geben, kündigte US-Präsident Joe Biden an. Zwar will Washington auch künftig Angriffe gegen die Taliban fliegen, doch ohne eine Militärbasis in der Region dürfte das logistisch schwierig werden.

Russland

Moskau kann seine Freude über den Abzug der Amerikaner kaum verbergen: ein US-gestütztes Regime weniger in der Region. Obwohl Russland die Taliban als eine Terrororganisation listet, empfängt man in Moskau seit Jahren Delegationen der Fundamentalisten, in der Hoffnung, gute Beziehungen zu den potenziellen neuen Herrschern des Landes aufzubauen - und um Russlands Verbündeten in Zentralasien weiszumachen, dass Moskau der einzige Garant ihrer Sicherheit ist.

Quelle: Infografik WELT

Aus Sicht des russischen Präsidenten Wladimir Putin sind die Taliban eine kleinere Bedrohung als der Islamische Staat oder al-Qaida, die bereits im Land präsent sind. Afghanistans einheimische Islamisten, so hofft man in Russland, werden helfen, diese Bedrohungen auszuschalten. So sieht es jedenfalls Samir Kabulow, Putins Gesandter für Afghanistan.

Insgesamt sei der Abzug gut für Russland, sagte er kürzlich in einem Interview. Dennoch geht der Kreml über reine Diplomatie hinaus. Den Taliban und anderen Kräften in Afghanistan zeigt Russland auch seine Militärmacht. In Tadschikistan, wo Russland seinen größten Militärstützpunkt im Ausland unterhält, ließ Moskau kürzlich Truppenübungen unweit der afghanischen Grenze ausrichten.

China

In Peking scheint anders als in Moskau die Vorsicht zu überwiegen - gleichwohl ohne militärische Machtdemonstrationen. Einen geopolitischen Puffer hat China nicht, mit dem muslimisch geprägten Xinjiang grenzt Chinas Problemprovinz an Afghanistan. Dort hat Peking schon weit vor dem Truppenabzug der Amerikaner aus Angst vor Islamisten einen repressiven Überwachungsstaat aufgebaut.

Längst hat China Afghanistan als einen Korridor für sein "Belt and Road"-Projekt im Auge sowie als einen Lieferanten wertvoller Rohstoffe, die Hunderte Milliarden Dollar wert sein sollen. Spannend für Peking sind unter anderem reiche, aber bislang nicht erschlossene Öl- und Gasvorkommen, die China helfen könnten, seine Energieimporte weiter zu diversifizieren.

Die Sicherheitslage selbst während der Präsenz der Amerikaner in den letzten 20 Jahren hat Chinas Investitionen allerdings nicht gerade beflügelt. Bereits unterzeichnete Rohstoffdeals konnten noch nicht realisiert werden, sehr zum Missfallen Kabuls. Wie Moskau spricht Peking direkt mit den Taliban - nicht zuletzt über informelle Garantien, uigurischen Separatismus nicht zu unterstützen - und wartet ab, ob die Sicherheitslage die Weiterführung seiner wirtschaftlichen Westwärtsstrategie auch in Afghanistan erlaubt.

Türkei

Während Russland und China den Taliban wohlwollend entgegentreten, ist die Lage für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan anders. Seine Truppen waren von Beginn an Teil der Nato-Operation in Afghanistan. Die Türkei will den Kollaps der Regierung in Kabul verhindern.

Kürzlich hat Ankara in Übereinkunft mit den Amerikanern angekündigt, den Flughafen von Kabul nach dem bevorstehenden Abzug der USA zu sichern. Bei den Taliban löste das empörte Reaktionen aus, die Pläne der Türkei kämen einer "Okkupation" gleich. Doch Ankara und die Nato setzten noch einen drauf und kündigten an, künftig afghanische Spezialkräfte in der Türkei auszubilden.

Dabei scheint Erdogan vor allem außenpolitische Ziele gegenüber Washington zu verfolgen. Die schwierige ökonomische Lage der Türkei und seine zunehmende innenpolitische Schwäche drängen den Alleingänger Erdogan zu Kompromissen mit dem Westen. Aus der türkischen Mission in Kabul will er diplomatisches Kapital schlagen. Ankaras geopolitische Ziele will er dabei auch nicht aus den Augen lassen. Eine Präsenz in Afghanistan birgt Chancen auf eine neue Zusammenarbeit mit China, Russland oder dem Iran und für den Ausbau des Handels mit dem "Herz Asiens", wie der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar Afghanistan nannte.

Iran

Teheran feiert den US-Abzug aus Afghanistan, treibt dort allerdings ein riskantes Spiel. Einerseits hat der Iran im Land erklärte Verbündete wie die schiitische Minderheit der Hasara, die Söldner für den iranischen Krieg in Syrien und anderswo im Nahen Osten stellt und als deren Schutzmacht das Mullahregime sich historisch inszeniert hat.

Andererseits darf Teheran nicht umstandslos auf die Hasara setzen, die nun nach Angriffen der Taliban ihre Kräfte mobilisieren. Der Iran muss einen Ausgleich mit den sunnitischen Taliban suchen, die Schiiten gegenüber nicht eben freundlich gesinnt sind - und auch die Regierung in Kabul im Blick behalten.

Der Iran ist nicht daran interessiert, den afghanischen Bürgerkrieg zu einem neuen Stellvertreterkrieg gegen Saudi-Arabien werden zu lassen, denn jede Unterstützung der Hasara wird Riad mit neuer Hilfe für die Taliban beantworten. Teheran ist also auch mit den Taliban im Gespräch, was für innenpolitischen Streit sorgt, der bis zur Kritik am Revolutionsführer Ali Khamenei reicht. Dieser sagte, die Taliban hätten sich "gewandelt", und sprach sich für mehr Dialog aus.

Indien/Pakistan

Für die beiden verfeindeten Länder birgt der Abzug der Amerikaner neue Risiken. Islamabad befürchtet eine Flüchtlingswelle, die für innenpolitische Probleme sorgen dürfte, sowie neue Bedrohungen durch das Erstarken der Taliban. Die Führung in Islamabad unterscheidet nicht mehr zwischen den "guten" Taliban, die in Afghanistan agieren, und der pakistanischen Taliban-Fraktion, die stets als eine Gefahr galt. Das pakistanische Militär erwägt erstmals Anti-Terror-Operationen auf afghanischem Gebiet.

Indien wiederum bangt um seinen Einfluss in Afghanistan. Neu-Delhi pflegt jedenfalls offiziell keine Kontakte zu den Taliban und unterstützt seit zwei Jahrzehnten die Regierung in Kabul ökonomisch, insgesamt beläuft sich Indiens Entwicklungshilfe im Land auf 2,5 Milliarden Euro.

Mit diesem Geld wurden Schulen, Krankenhäuser und Staudämme errichtet, ja sogar das Parlamentsgebäude. Das Erstarken der Taliban wird in Indien als ein geopolitischer Verlust gedeutet, der das Machtgleichgewicht zugunsten Pakistans verschiebt. Die Fundamentalisten gelten Indien als eine Marionette Pakistans.


Quelle: welt.de vom 31.07.2021