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Reinhard Bingener, Hannover
06.09.2025, 12:51 Lesezeit: 4 Min.
Das Opfer in dem Fall ist die 16 Jahre alte Liana K., eine junge Frau aus der Ukraine, die 2022 mit ihrer Familie vor der russischen Invasion aus Mariupol floh, in Deutschland ihren Schulabschluss machte und eine Ausbildung begann.
Auf dem Bahnhof im niedersächsischen Friedland wurde sie am 11. August von einem durchfahrenden Güterzug erfasst und tödlich verletzt. Vor einigen Tagen gelangten die Ermittler zu dem Ergebnis, dass das Mädchen vermutlich von dem 31 Jahre alten Muhammad A., einem abgelehnten Asylbewerber aus dem Irak, gegen den Güterzug gestoßen wurde.
Das erste Problem in diesem Fall tut sich bereits in dem Moment auf, in dem der Mann den Boden der EU betritt. Denn die Behörden vermuten, dass der Iraker über Weißrussland nach Litauen gelangt ist. Muhammad A. dürfte damit Teil jener Migrationsströme rund um das Jahr 2021 gewesen sein, die vom weißrussischen Diktatur Lukaschenko und seinem Verbündeten Wladimir Putin in die EU gelenkt wurden, um diese zu destabilisieren. Die baltischen Staaten reagierten ebenso wie Polen und Finnland mit entschlossenen Abschottungsmaßnahmen auf diesen hybriden Angriff durch "weaponized migration".
Das harte Vorgehen wurde aus Deutschland jedoch kritisiert, obwohl viele der Migranten vermutlich zumindest ahnen konnten, von wem und wofür sie auf ihren Routen über Russland und Weißrussland instrumentalisiert werden.
Im weiteren Verlauf des Falls wird dann die fehlende Funktionsfähigkeit des Dublin-Systems deutlich: Der Iraker stellt zunächst in Litauen einen Asylantrag, das nach den EU-Regeln auch für ihn zuständig ist. Er reist dann jedoch weiter nach Deutschland, wo er im August 2022 am Braunschweiger Hauptbahnhof aufgegriffen wird. Dort äußert er gegenüber der Bundespolizei ein weiteres Asylbegehren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ersucht Litauen bald darauf um die Rücknahme des Irakers, und das baltische Land stimmt diesem Antrag auch zügig zu. Das BAMF lehnt also im Dezember 2022 das zweite Asylgesuch ab und ordnet die Abschiebung an.
Der Iraker erhebt jedoch eine Klage dagegen, und das Verwaltungsgericht Göttingen gelangt in einem vorläufigen Verfahren zur Überzeugung, dass eine Unterbringung in Litauen nicht den Standards genügt. Das Gerichtsverfahren endete erst mehr als zwei Jahre später mit der Entscheidung, dass die Defizite im litauischen Asylsystem inzwischen behoben seien. Die Abschiebungsanordnung wird damit am 18. März 2025 vollziehbar.
Die zuständige Ausländerbehörde des Landkreises Northeim hatte jedoch bereits im Januar 2025 den Fortzug des Irakers "nach unbekannt" gemeldet. Das Niedersächsische Innenministerium resümiert im Rückblick, der Iraker sei eigentlich "so gut wie nie auffindbar gewesen". Zwischenzeitlich hatte er sich in der Schweiz aufgehalten, zudem nutzte er offenbar unterschiedliche Namen, was den Behörden wie in anderen Fällen die Arbeit erschwert.
Am 21. April 2025 taucht der Iraker aber im Grenzdurchgangslager Friedland auf. Er behauptet nun, er sei erst kürzlich aus dem Irak zurückgekommen, und stellt einen weiteren Asylantrag. Die ausländerrechtliche Zuständigkeit wechselt damit vom Landkreis Northeim zur Landesaufnahmebehörde Niedersachsen und Muhammad A. erhielt bis zur Entscheidung über sein neuerliches Asylgesuch eine Duldung. Bei Behördenterminen verhält er sich jedoch "abweisend bis feindselig" oder erscheint erst gar nicht, wie das Innenministerium mitteilt.
Mitte Mai verschwindet der Iraker dann aus seinem Zimmer in Friedland, und es heißt abermals: "Fortzug nach unbekannt". Wenige Wochen später greift der Iraker dann vor dem Hauptbahnhof Hannover Passanten an. Die Polizei identifiziert Muhammad A. anhand seiner Fingerabdrücke und verbringt ihn wegen einer nichtbezahlten Geldstrafe ins dortige Gefängnis. Die Strafe geht auf einen sexuellen Übergriff zurück; der Iraker hatte vor einer Frau sein Geschlechtsteil hervorgeholt. Dies war nur einer von mehreren Vorfällen, in denen das Verhalten des häufig alkoholisierten Mannes zu Polizeieinsätzen führte.
In den Ermittlungen wird derzeit psychische Zustand des Irakers geklärt. Bei ihm soll eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden sein, die Formulierung des Justizministeriums dazu bleibt allerdings vage. Der Fall befeuert auch die Debatte über Überlastung und fehlende Befugnisse psychiatrischer Einrichtungen. Denn nur einen Tag vor dem Tod der jungen Ukrainerin begab sich Muhammad A. von sich aus in eine Psychiatrie in Göttingen. Er verblieb dort aber nicht, weil keine "Eigen- oder Fremdgefährdung" festgestellt wurde.
Der Plan, ihn nach seinem Gefängnisaufenthalt in Hannover nach Litauen abzuschieben, war zuvor gescheitert. Die Landesaufnahmebehörde hatte Mitte Juli zwar eine anschließende Abschiebehaft beantragt. Das Amtsgericht Hannover bezweifelte jedoch eine erhebliche Fluchtgefahr und wies den Antrag trotz Nachbesserung durch die Behörde in einem Beschluss ab, der der F.A.Z. vorliegt. Die Landesaufnahmebehörde unterließ es, eine Beschwerde dagegen einzulegen.
Nun schieben sich beide Stellen gegenseitig die Verantwortung dafür zu, dass der Iraker Ende Juli freikam und sogleich wieder mit aggressivem Verhalten auffiel. Auch am 11. August beschäftige Muhammad A. sowohl vor wie nach seiner Tat am Bahngleis die Polizei.