Schweden und Österreich hatten Angela Merkel 2015 anfangs unterstützt. 2020 nicht mehr. "Schweden ist mit sich selbst beschäftigt", sagt Lotta Lundberg, Korrespondentin des "Svenska Dagbladet". Die wichtigsten Themen sind Corona und die Clan-Kriminalität sowie im Ausland Trump und Brexit.
2015 hatte Schweden die meisten Flüchtlinge pro Kopf aufgenommen.
In Österreich gehört Moria zu den drei wichtigsten Themen, sagt Ewald König, Leiter des "Berliner Korrespondentenbüros". Aber wegen der innenpolitischen Folgen. Aufnehmen oder nicht sei die Streitfrage in der türkis-grünen Koalition unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Die Grünen trauten sich nicht, die Koalitionsfrage zu stellen, weil sie damit die populistische FPÖ wieder ins Spiel bringen.
Auch Österreich hat seit 2015, gemessen an seiner Bevölkerung, mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland. Kurz profiliere sich mit einer Doppelbotschaft aus Humanität und Härte. Er schickt Zelte mit Heizung und Hygieneeinrichtungen, Ärzte und Sanitäter nach Moria.
Für Frankreich ist Moria ein herausragendes Thema, wird aber nicht so intensiv und emotional diskutiert wie in Deutschland, sagt Pascal Thibaut, Korrespondent von Radio France Internationale.
In Italien zählt Moria zu den zehn wichtigsten Themen, meint Tonia Mastrobuoni von der Zeitung "Repubblica", nicht aber zu den ersten drei. Die seien das Verfassungsreferendum, die nächsten Wahlen und die Lage in den Schulen. Italien sieht sich selbst nicht in der Pflicht, es habe bereits mehr als genug Flüchtlinge aufgenommen. Es begreift sich wie Griechenland als Opfer der fehlenden europäischen Migrationspolitik. Deutsche und französische Anstöße werden als hilfreich betrachtet.
Dänemark und die Niederlande verfolgen seit Jahren eine restriktivere Migrationspolitik als Deutschland. Moria sei ein wichtiges Auslandsthema, aber "nicht Frontpage", sagt Uffe Dreesen, Berlin-Korrespondent von "TV 2 Danmark".
Die grüne Bürgermeisterin von Amsterdam und der aus Marokko stammende Bürgermeister von Rotterdam drängten aber auf Flüchtlingsaufnahme. Der Kompromiss: Die Niederlande sind bereit, 500 Minderjährige und 500 weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Unter einer Bedingung: Sie kommen nicht zusätzlich, sondern werden auf das Kontingent angerechnet, zu dem das Land schon vor dem Brand bereit war.
In Polen kann man über Stunden die Nachrichten verfolgen, ohne ein einziges Wort über Moria zu erfahren. Auch in Tschechien ist die Notlage nur ein Randthema, sagt Pavel Polak von der Tageszeitung "Denik N". Über den Brand wurde berichtet, nicht aber, was mit den Betroffenen geschehen soll. Die generelle Haltung, auch bei den mitregierenden Sozialdemokraten, sei: Wir nehmen nicht auf.
Quelle: tagesspiegel.de vom 15.09.2020
Ein bisschen Laotse täte dem Streit gut. Was sollen Griechenland, Deutschland und Europa nach dem Brand in Moria tun?
In der Not ist beides geboten: Soforthilfe und Nachhaltigkeit. Humanität und Ordnung. Sie sind kein Entweder- Oder. Sie müssen in eine Balance gebracht werden. Sonst wird das Eine zum Hindernis für das Andere.
In Deutschland möchten viele helfen, weit mehr als in anderen EU-Ländern. Das ist anrührend. Zum Gutteil haben sie aber sehr bestimmte Vorstellungen von ihrer Soforthilfe: Ausfliegen der Flüchtlinge nach Deutschland.
Umgekehrt klagen die Hilfsbereiten Griechenland und die EU zu Recht an: Ihr habt es seit Jahren an Humanität fehlen lassen. Kommt uns jetzt nicht mit dem Ruf nach Ordnung.
Schon naht der nächste Eklat. Die Bundesregierung will unter dem Druck der Hilfsbereiten mehr Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen. Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis droht parallel, er lasse keine Moria-Flüchtlinge in andere EU- Staaten ausreisen. Das empört die Deutschen. Aber er weiß, die Mehrheit der EU unterstützt diese Linie.
Tatsächlich haben es die EU und ihre Mitglieder seit Jahren an beidem fehlen lassen: an Humanität und Ordnung. Die Umstände in den Lagern waren inhuman. Wegschauen gehörte zum Kalkül. Die Verhältnisse sollten abschrecken, damit es nicht zu neuen Migrationswellen kommt.
Das hat funktioniert, die EU hat die Zeit aber nicht genutzt, um ein System aufzubauen, das garantiert, was sie verspricht: Verfolgte erhalten Schutz. Wer das nur vorgibt, wird abgeschoben. Die Prüfung erfolgt im ersten EU-Land, zügig und unter humanen Umständen.
Das Handeln der EU hat Schlagseite. Bei harten Maßnahmen wie den Rückführungsabkommen mit der Türkei und anderen Ländern sowie dem Grenzschutz kommt sie voran. Nicht aber bei der Humanität und zügigen Asylverfahren.
Wie findet Europa zu einer besseren Balance? Mit mehr Pragmatismus, mehr Offenheit für Argumente des Gegenlagers und mehr Bemühen, nicht in die Verhaltensmuster von 2015 zurückzufallen. Die Zahl der Neuankömmlinge ist drastisch zurückgegangen. Die Hartherzigen hätten allen Grund, es mit weniger Abschreckung und mehr Humanität zu versuchen.
Die Hilfsbereiten in Deutschland sollten sich auf griechische Vorschläge einlassen. Soforthilfe in Griechenland statt Ausfliegen nach Deutschland. Unterstützung beim Aufbau eines humanen Moria und der Beschleunigung der Asylverfahren.
Deutschland muss sich zudem fragen, warum es so wenig Verbündete in der EU für seine Vorstellungen findet. Wie 2015 wird deutsches Vorpreschen erneut zum Hindernis für gemeinsame Politik. Die Einen sind genervt, wenn Berlin den Kurs vorgibt. Die Anderen nehmen es als Ausrede, dass sie nicht gefordert sind. Wenn die Deutschen das allein auf sich nehmen wollen - bitte sehr.
Angela Merkel und ihr Kabinett winden sich unter den gegenläufigen innen- und außenpolitischen Druckverhältnissen. Sie wollen auf die Hilfsbereiten eingehen und zugleich Mitsotakis bei der Stabilisierung helfen. Er agiert europäischer und effektiver als sein linker Vorgänger Tsipras. Unter deutschem Vorsitz soll die EU zudem einen Migrationspakt schließen.
Das Ergebnis sind Kompromisse: Deutschland wird Griechenland nicht in erster Linie Flüchtlinge aus Moria abnehmen, sondern anerkannte Asylbewerber vom Festland. Moria wird aufgebaut. Die meisten Insassen müssen dort den Ausgang ihrer Asylverfahren abwarten. Die EU teilt sich mit Griechenland die Verantwortung dafür, dass humanitäre Verhältnisse einkehren.
Das ist zu wenig zu spät. Und doch ein Fortschritt. Es braucht eine nachhaltige gemeinsame Lösung, damit nicht bei jeder neuen Notlage wieder der Grundkonflikt in aller Härte aufbricht. "Koalitionen der Willigen" sind keine Dauerlösung. Sie zeigen nur jedes Mal erneut, wie gespalten die EU ist. Mehr Nachhaltigkeit und Ordnung sind nötig, damit Soforthilfe seltener gebraucht wird.
Quelle: tagesspiegel.de vom 15.09.2020