Donnerstag, 19.08.2021, 07:54
Die desaströse Lage in Afghanistan und die Rückkehr der Taliban an die Macht verängstigt, schockiert und verärgert die US-Veteranen. Sie haben nicht nur 20 Jahre lang in Afghanistan ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben und dabei 2450 Kameraden verloren, sondern sorgen sich auch um die gefährdeten afghanischen Helfer und Frauen. Nach all den Opfern und all der Zeit steht nur eine Frage im Raum: War alles umsonst?
Der US-Veteran Chad Fross ist immer davon ausgegangen, dass der Abzug der US-Truppen ein reines "Chaos" werden würde. Denn die USA hätte auch nach 20 Jahren Militäreinsatz Afghanistan nicht richtig verstanden. "Viele Menschen werden fragen: Warum? Es war sinnlos, dort zu sein, zu sehen, wie Freunde ihr Leben oder Körperteile oder ihren Verstand verlieren", stellt der ehemalige Soldat fest und fragt sich aber zeitgleich, ob es nicht auch sinnlos gewesen wäre, noch weitere 20 Jahre an dem US-Kurs in Afghanistan festzuhalten, wenn das Ergebnis wieder dasselbe gewesen wäre.
Da die Islamisten am Sonntag ohne großen Widerstand Kabul einnehmen konnten, versuchen die westlichen Staaten nun mit großen Evakuierungsaktionen die Staatsbürger und Ortskräfte außer Landes zu fliegen. Besonders die Ortskräfte, die für die westlichen Streitkräfte gearbeitet haben, fürchten jetzt die Racheakte der Taliban, trotz vermeintlich versprochener Amnestie.
Der US-Präsident Joe Biden muss sich dieser Tage häufig die Frage anhören, warum den Ortskräften nicht rechtzeitig geholfen wurde. "Sie haben uns geholfen, und wir lassen sie jetzt im Stich", kritisiert Veteran Fross. "Das ist nicht richtig."
Auch der ehemalige Soldat Tom Porter, aus der Vereinigung der Afghanistan- und Irak-Veteranen, ist wütend über die Situation der zurückgebliebenen Ortskräfte. "Wir müssen unsere Versprechen gegenüber jenen einhalten, die so viel für uns geopfert haben", erklärt der Veteran wütend und echauffiert sich außerdem über die "planlose und chaotische" Umsetzung des Truppenabzugs.
Die Rückkehr der Taliban an die Macht ist besonders bitter für die US-Veteranen, weil sie zusehen mussten, wie ihre Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte binnen weniger Tage zunichte gemacht worden sind. Gerade die zu befürchtende Unterdrückung der Frauen besorgt die ehemaligen Soldaten.
Marc Silvestrie ist selbst vor zehn Jahren im Afghanistan-Einsatz gewesen und hat nach all der Zeit und Milliarden an Investitionen den geplanten Abzug der US-Truppen befürwortet. Doch nie hätte er sich ausmalen könne, dass die Taliban so schnell die Macht wieder an sich reißen würden. "Ich hätte nie gedacht, dass die afghanische Armee, in die wir so viel Training und Geld gesteckt haben, einfach ihre Waffen niederlegen und das Land übergeben würde", erzählt der Veteran schockiert, der sonst in Revere in Massachusetts andere Veteranen betreut.
Einer der Vietnam-Veteranen hätte Silvestrie erzählt, dass die Lage in Afghanistan ihn an den Fall von Saigon 1975 erinnern würde. "Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas noch einmal sehen würde", soll der Veteran ihm gesagt haben. "Ich erlebe den Fall von Saigon wieder."
Der Fall von Saigon ist tief im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner verankert. 1973 verließen die US-Soldaten Vietnam nach jahrelangen Krieg und zwei Jahre später musste die US-Botschaft eigene Bürger und deren Familien aus Saigon evakuieren, weil die einheimisch südvietnamesische Armee nach dem Abzug der US-Truppen zusammenbrach und nicht gegen die Miliz ankam.
Die US-Veteranen und all ihre Angehörigen stellen sich alle die gleichen Fragen. Waren alle Opfer des Afghanistan-Einsatzes umsonst? Marc Silvestrie sagt, dass die Eltern fragen, ob ihre Kinder "für eine verlorene Sache" gestorben sind? "Letztendlich haben sie für uns gekämpft", sagt Silvestri. "Einige haben es nicht nach Hause geschafft, aber uns ermöglicht, nach Hause zurückzukehren."
Quelle: focus.de vom 19.08.2021