Von Tim Röhn
Ressortleiter Investigation und Reportage
Stand: 18.08.2024 09:10 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten
An einem Sonntagmorgen im August stehen etwa 250 Männer aus der Subsahara in der Abflughalle des Flughafens Teneriffa-Nord und warten auf den Check-in. Erst vor Kurzem sind sie an der afrikanischen Küste - in der Regel in Mauretanien oder im Senegal - in ein Holzboot gestiegen und in Richtung des spanischen Archipels gefahren, viele Hundert Kilometer weit. Die meisten kamen auf El Hierro an, der kleinsten Kanaren-Insel, aktuell der Hotspot der Migrationskrise schlechthin.
Von dort fuhren sie mit der Fähre nach Teneriffa, ins Auffanglager Las Raíces, gleich neben der Start-und-Lande-Bahn des Flughafens. Und jetzt geht es auch schon weiter. Nächster Stopp: Madrid. Vor den Abfluggates beantwortet eine Mitarbeiterin der NGO Accem auf Französisch geduldig alle Fragen der Reisenden, von denen einige sehr müde aussehen. "Sie haben erst um drei Uhr am Morgen erfahren, dass heute ihr Flieger geht", sagt die NGO-Frau.
Lesen Sie auch
Fabrice Leggeri:
"Migranten sofort zurückschicken" - so erklärt der Ex-Frontex-Chef seinen Plan für die EU
Szenen wie diese spielen sich an den großen Flughäfen der Kanaren in diesen Tagen und Wochen regelmäßig ab. Während die Zahlen der Bootsmigranten auf anderen Top-Routen zurückgehen, erlebt der Archipel einen Boom: Rund 21.000 Menschen kamen bis Mitte August, das sind 148 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Und ein Ende ist nicht in Sicht - im Gegenteil. Im Herbst, wenn sich das Meer beruhigt und die Winde nachlassen, legen traditionell die meisten Boote ab.
In der spanischen Presse wurde jüngst die Zahl von 70.000 Migranten genannt, die allein in Mauretanien auf die nächstbeste Möglichkeit warten, ein Boot gen Kanaren zu besteigen. Aus Sicherheitskreisen verlautete gegenüber WELT AM SONNTAG, allein für El Hierro würde man bis Jahresende mit insgesamt 80.000 Ankömmlingen rechnen - das indes erscheint kaum vorstellbar. Die Inseln jedenfalls sind dem Ansturm schon heute nicht gewachsen, deswegen werden die Leute schnellstmöglich ausgeflogen. Dieses Vorgehen und grundsätzlich der große Andrang bereiten den Sicherheitsbeamten zunehmend Kopfzerbrechen - nicht nur in Spanien, sondern auch innerhalb der EU-Grenzschutzbehörde Frontex.
Quelle: Infografik WELT
Auf den Kanaren sagen selbst Helfer, die vor einem Jahr noch sehr positiv über "die Flüchtlinge" sprachen, heute: "Es passieren seltsame Dinge." Es sind die täglich immer gleichen, von der Politik längst akzeptierten Abläufe, die viele Menschen nach und nach ratlos zurücklassen - dieser Automatismus des Herein- und Durchwinkens der Migranten durch ganz Europa. Auf den Kanaren ist dies noch recht junge Normalität, das Drama begann hier erst 2020.
Lesen Sie auch
Sicherheitsrisiko -
Das verdächtige Mauern der Behörden in der Visa-Affäre
Auf Teneriffa nimmt am Dienstag vergangener Woche ein Beamter der spanischen Nationalpolizei in der Bar "El Bunker" in Guamasa Platz. Der Mann hat sich unter der Bedingung, dass sein Name nicht öffentlich erscheint, zu einem Treffen bereit erklärt. Er war selbst in El Hierro im Einsatz, sowohl im Hafen La Restinga als auch im Zeltdorf in San Andrés, das als Erstaufnahmelager dient - und als Arrestzelle. Wenn ein Boot in den Hafen fährt oder von den staatlichen Seenotrettern des Salvamento Marítimo dorthin geschleppt wird, wird zuerst geschaut, ob Insassen nach der bis zu neun Tage dauernden Überfahrt ärztliche Hilfe benötigen. Das passiert oft, immer wieder sind auch Leichen an Bord, und im Juli lebte ein Zweijähriger bei der Ankunft zwar noch, starb dann aber im Krankenhaus.
Quelle: Tim Röhn/WELT
Wer fit ist, wird wegen illegaler Einreise festgenommen. Nach dem Transport ins Lager in San Andrés nehmen Nationalpolizisten und Frontex-Beamte Namen und Nationalitäten der Leute auf. "Manche haben Dokumente, manche nicht. Es spielt aber auch keine große Rolle. Da sagt dann einer Ich bin Ali Kringkring aus Sierra Leone', und wir notieren das so", sagt der Beamte und schüttelt den Kopf: "Wir können die Angaben nicht kontrollieren, wir können auch die genommenen Fingerabdrücke aus Datenschutzgründen nicht mit vorhandenen Fingerabdrücken abgleichen. Und nach maximal 72 Stunden müssen wir die Leute gehen lassen."
Bis dahin hätten nämlich alle, beraten von Rechtsanwälten, ein Asylbegehren geäußert. Damit ist der Aufenthalt in der EU erst einmal geregelt: Die spanischen Behörden werden sich mit einer Einladung zum Asyl-Interview melden. "Oder auch nicht", sagt der Beamte: "Die meisten reisen einfach aus Spanien weiter und stellen in ihren Zielländern einen neuen Asylantrag." Der Beamte, der hier auspackt, hält das alles für "ein großes Sicherheitsrisiko": "Wir wissen nicht, wer die Leute sind. Aber sie sitzen dann in Flugzeugen und fliegen kreuz und quer durch den Schengen-Raum."
Ein Beamter der Seenotrettung, den WELT AM SONNTAG auf den Kanaren trifft, darf offiziell ebenfalls nicht mit der Presse reden. Mit Beginn der großen Krise in der Meerenge von Gibraltar in den Jahren 2018 und 2019, als plötzlich Hunderte Migrantenboote täglich aus Marokko übersetzten, verpasste das übergeordnete Transportministerium den Rettern einen Maulkorb. Interview-Anfragen laufen ins Leere. Der Mann, der trotzdem spricht, ist seit vielen Jahren im Dienst.
Lesen Sie auch
Hans Leijtens:
Der Frontex-Chef, der nicht an den Grenzschutz glaubt
Er sagt: "Es wird immer schlimmer. Die Schlepper sparen am Benzin, um noch mehr Profit zu machen. Die, die ankommen, sind in einem viel schlechteren Zustand als noch vor einiger Zeit. Auf Frauen und Kinder wird in den Booten kaum noch Rücksicht genommen." Er scheint verzweifelt: "Es gibt oft Pressemeldungen unserer Rettungseinsätze. Da heißt es dann 60 Gerettete, 80 oder 100. Aber was keiner weiß, ist, wie viele es nicht schaffen. Wir hören ja von den Leuten, dass da noch Freunde kommen müssten, Verwandte. Aber die kommen nie."
Von zehn Booten, sagt der Mann, würden nur noch drei bis fünf ankommen. Das würde Zehntausende Tote allein 2024 bedeuten und nicht rund 1500, die die Internationale Organisation für Migration (IOM) aktuell meldet.
Lamine hingegen, der mit zwei Freunden am Migrantenlager Las Raíces auf dem Boden sitzt, hat es geschafft. Er sei aus Gambia, habe umgerechnet 600 Euro bezahlt, sei ins Nachbarland Senegal gefahren und habe dort mit 60 anderen ein Boot in Richtung Kanaren bestiegen: "Nach neun Tagen waren wir in El Hierro." Warum er sich aufgemacht hat? "Gambia ist korrupt, es gibt kaum Möglichkeiten, Geld zu verdienen", sagt er: "Ich hatte noch nie ein Bankkonto." Arbeitserfahrung habe er auf dem Bau gesammelt. Sein Ziel: Madrid, irgendeine Arbeit finden. Dass er dafür Asyl bräuchte, spielt erst einmal keine Rolle: "Ich möchte ein besseres Leben. So wie ihr Europäer."
Quelle: Tim Röhn/WELT
Quelle: Tim Röhn/WELT
Am anderen Ende Spaniens, in der Exklave Ceuta auf afrikanischem Territorium, herrscht derweil ausgelassene Stimmung. Es ist Montagmittag, in der Nacht zuvor waren Hunderte Marokkaner und Schwarzafrikaner auf marokkanischer Seite ins Meer gesprungen und am Grenzposten vorbei nach Ceuta geschwommen. Andere stürmten den Grenzzaun. Wie viele von ihnen Erfolg hatten, ist unklar, aber ein paar Dutzend sind jetzt hier am Eingang von Ceutas Erstaufnahmelager.
Sie stellen sich auf zu immer neuen Gruppenfotos, jubeln in die Kamera, tanzen, springen, lachen. Ein spanischer Putzmann wird gebeten, sie mit dem Wasserschlauch vollzuspritzen, es ist brüllend heiß. Einer der Beseelten ist Achmed, auch Marokkaner.
Lesen Sie auch
EU-Außengrenze-
"So viele waren es noch nie" - Flüchtlinge schwimmen jetzt nach Europa
Was tun im Angesicht dieser Realität? Entscheidungen, die die Lage grundsätzlich ändern würden, fällt die Politik nicht. Im Hafen von La Restinga auf El Hierro wollen Beamte etwas bewirken. Sobald ein Boot kommt, wird das Navigationsgerät konfisziert und ausgelesen - so wie bei einer nächtlichen Ankunft vergangene Woche. Durch die GPS-Daten wird ersichtlich, wo genau die Leute im Senegal oder Mauretanien gestartet sind. Sofort werden dort stationierte spanische Nationalpolizisten über den Standort informiert und versuchen, Schleuser-Zellen zu zerschlagen - gemeinsam mit heimischen Sicherheitskräften. Das spanische Innenministerium teilte WELT AM SONNTAG mit, "der Kampf gegen die Mafia" würde Früchte tragen: 40 Prozent der Abfahrten habe man zuletzt verhindert.
Im Hafen von La Restinga kann das den gerade neu angekommenen 76 Migranten egal sein. In Zelten werden sie von Mitarbeitern des Roten Kreuzes versorgt. Bald kommt der Bus nach San Andrés, dann die Fähre, dann das Flugzeug nach Madrid. Der Traum von Europa, - jetzt wird er gelebt.