Migration über Tunesien
"Für August habe ich schon 30 Überfahrten komplett und abreisefertig"

23.06.2023 10:04 Uhr | Lesedauer: 8 Minuten

Von Leonardo Martinelli, Sfax

Einer der mächtigsten Menschenschmuggler der tunesischen Küstenstadt Sfax gibt einen seltenen Einblick in sein Geschäft. Es geht um Tarnung, "Investoren" und "Kunden" - und gnadenlose Regeln für den Fall, dass bei der Überfahrt etwas schiefläuft.

Subsaharische Migranten, die von der tunesischen Marine im Mittelmeer abgefangen wurden, warten im Hafen von Sfax
Quelle: dpa

In der überfüllten Bar, die an einer staubigen Straße voller Leben, aber auch voller Ungewissheit liegt, ist im Hintergrund das Lied des tunesischen Rappers Balti zu hören. Alle kennen "Allo Allo", das wehmütige Lied eines jungen Mannes, der nach Italien ausgewandert ist und von Heimweh und Reue erzählt. "Wo ist nur mein Leben geblieben? Meine Jugend?" fragt er am Telefon seine Verlobte, die zu Hause geblieben war.

Die Männer in dem Lokal trinken scheinbar ungerührt ihren Kaffee. Dann laufen sie wieder hinaus in die geschäftige Stadt. Sfax mit seinen mehr als 300.000 Einwohnern, an der Ostküste Tunesiens gelegen, ist eine Drehscheibe für Migranten. Tunesier und Menschen aus den Ländern südlich der Sahara bevölkern die Straßen, voller Hoffnung, von hier aus die Reise zur italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa anzutreten.

Ein Pickup-Truck hält vor dem Lokal. Hinter dem Lenkrad sitzt Hassan (Name von der Redaktion geändert). Er ist einer der wichtigsten "Passeurs", der Schlepper in Sfax, und steht an der Spitze der mafiaähnlich strukturierten Organisation, welche die illegalen Überfahrten nach Europa anbietet.

Etwas nervös lenkt er hinaus in den dichten, anarchischen Verkehr und begibt sich auf die Suche nach einem Ort, an dem wir uns in Ruhe unterhalten können. Er hält an einem leeren, kleinen Grundstück, über das der Wind leere Plastiktüten fegt. Gegenüber wird schon seit vielen Jahren eine Autobahn gebaut: Ein gescheitertes Projekt, wie es sie so viele gibt in Tunesien.

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Hassan ist 29 Jahre alt, hat einen perfekt gestutzten schwarzen Bart und eine Brille mit leichtem Metallrahmen, das Gesicht eines braven Jungen. Es ist Sonntag. In seinem T-Shirt und den passenden Shorts sieht er aus wie ein Banker an seinem freien Wochenende. Er kommt gerade von einem Treffen mit seiner Freundin.

Was er beruflich macht? Er betreibe ein "illegales Reisebüro". Er spricht immer wieder von "Kunden" und von "Angebot und Nachfrage", präzise und höflich. Nichts vom Klischee des rauen Bootsführers, der Kähne mit Einwanderern steuert. "Ich stamme eigentlich von den Kerkennah-Inseln", sagt er. Sie sind weit draußen am Horizont zu sehen, hinter der ruhigen und glatten Meeresoberfläche. Dort sind traditionell vor allem Fischer und Schmuggler zu Hause.

"Ich habe vor fünf Jahren ganz klein angefangen. Ich beteiligte mich an der Organisation der Überfahrten, war aber nie Bootsführer. Die Kunden waren zufrieden, und so habe ich mir einen Namen gemacht und einiges sparen können. Schließlich habe ich damit angefangen, in die Überfahrten zu investieren." Er kann sich gut ausdrücken, auch auf Französisch. Eine Zeit lang hat er studiert.

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Genau wie seine Kollegen hat auch er eine Tarnfirma. "Ein Unternehmen mit gutem Ruf, in einem ganz anderen Bereich." Worum es sich dabei handelt, will er nicht sagen. Meist sind es IT-Firmen oder Immobilien-Agenturen. "Auf diese Weise wird das schmutzige Geld gewaschen und ich kann meinen Lebensstil rechtfertigen." Er steht an der Spitze einer ganzen Pyramide. Unter ihm befinden sich auf verschiedenen Ebenen sogenannte "Koordinatoren": Sie sammeln die "Kunden" im ganzen Land ein oder beschaffen Boote und Motoren. An der Spitze steht der Bootsführer.

"Sie kennen sich untereinander nicht. Nur ich selbst kenne sie alle." Und er dirigiert sie wie Marionetten, von seinem Handy aus. Hassan selbst ist nie zu sehen, er zeigt sich nie. Er erzählt, dass er mit den neuen Metallbooten nicht arbeiten wolle, da sie zu gefährlich seien. Nur mit Holzbooten. Und vor allem mit tunesischer Kundschaft, denn die zahle mehr.

"Da fahren auch Frauen mit Neugeborenen mit oder ganze Familien. Ich will mir nicht die Hände mit ihrem Blut beschmutzen. Und der Untergang eines Bootes bedeutet auch für mich ein großes Risiko." Erst kürzlich habe man einen Schlepper aus Sfax verhaftet, der bereits zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt 79 Jahre verurteilt worden war. Eines seiner Boote war gesunken, 20 Migranten starben.

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"Gott sei Dank ist mir noch nie ein Boot gesunken", sagt Hassan. Dabei wird nicht ganz klar, ob er das mehr aus Angst vor dem Gefängnis sagt oder weil er sich dann mit seinem eigenen Gewissen auseinandersetzen müsste. Er betont, dass ja auch diejenigen, die sich auf die Reise begeben, "ihre Risiken kennen und selbst Verantwortung übernehmen müssen." Und sollte keiner seiner Kunden sterben, man ihn aber dennoch verhaften, so werde er "mit all dem Geld, dass ich verdient habe, irgendjemanden bezahlen und schnell wieder aus dem Gefängnis kommen".

Hassan gibt sich selbstsicher und gelassen. "Angst habe ich schon. Auch jetzt, weil ich mit dir rede." Er hat keinerlei Interesse daran, ein Interview zu geben, wahrscheinlich sieht er das als eine Herausforderung an sich selbst. Er kam nur aus einer Laune heraus, eine Botschaft hat er nicht weiterzugeben. Auch nicht an Tunesiens Präsident Kais Saied. "Lasst uns nur in Ruhe arbeiten und basta."

Die Zahl der Landungen auf Lampedusa, die zunächst im Vergleich zum Vorjahr um das Zehnfache gestiegen waren, gehen seit einem Monat zurück. Der Grund dafür könnte sein, dass die Kontrollen, die Tunesien und Italien vereinbart haben, ihre Wirkung zeigen. Hassan will davon nichts hören. "Dass die Zahl der Überfahrten zurückgegangen ist, liegt nur am eigenartigen Wetter in diesem Jahr. Es weht ein starker Wind. Das ist der Klimawandel. Machen Sie sich also keine Illusionen."

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und die EU haben mit Tunesien einen Migrationsdeal geschlossen, ähnlich jenem, den einst Angela Merkel für die EU mit der Türkei vereinbart hatte. Hassan hält ihn für wirkungslos. "Nicht einmal der Prophet höchstpersönlich könnte die Harka verhindern." So nennt man dort die illegale Einwanderung. Und er, Hassan der Schlepper, ist die Harka.

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"Es wird nicht aufhören, denn in Tunesien leben die Menschen wie in einem Würgegriff: Sie am Fortgehen zu hindern, würde ihren sofortigen Tod bedeuten. Wir sind hier an einem Punkt angekommen, von dem es kein Zurück mehr gibt." Er hat sich bereits bei den Meteorologen erkundigt - und das Wetter soll auch im Juli noch schlecht sein. "Doch für August habe ich schon 30 Überfahrten komplett und abreisefertig. Die Meloni wird sich damit abfinden müssen."

"Der Preis pro Kunde", sagt Hassan, "hängt immer vom Service ab. Es sind etwa 2500 bis 3000 Dinar (740 bis 880 Euro) auf einem Holzboot mit mehr als fünfzig Personen an Bord. Diejenigen, die 7000 bis 8000 (2000 bis 2500 Euro) Dinar bezahlen, fahren auf einem gleichwertigen Boot, aber nur mit etwa dreißig Migranten und zwei Motoren statt nur einem, falls der erste ausfällt."

Die tunesische Küstenwache bringt im Mittelmeer nahe Sfax Migrantenboote auf
Quelle: Yassine Gaidi/AA/picture alliance

Es seien sogar Leute dabei, die nichts bezahlen: "Wenn jemand kein Geld hat, dann kann er gratis mitfahren, wenn er uns mindestens fünf andere Kunden bringt. Und falls es dann auf der Reise Probleme gibt, muss er als erstes ins Meer springen."

Oft organisiert Hassan auch Boote mit hundert Personen an Bord. In diesem Fall, behauptet er, muss die Organisation 240.000 Dinar (rund 70.000 Euro) investieren - inklusive des Kaufpreises für das Boot. Seine Einnahmen belaufen sich auf 450.000 Dinar (130.000 Euro) - die Differenz beträgt also 210.000 (60.000 Euro). "Ich behalte davon 20 Prozent (rund 12.000 Euro, Anm. d. Red.). Der Rest wird unter die Koordinatoren verteilt. Normalerweise sind fünf von ihnen daran beteiligt."

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Angesichts der hohen Zahl an Überfahrten steht Hassan manchmal nicht genug Geld zur Verfügung - dann wendet er sich an lokale "Geschäftsleute und Freiberufler": Es sind die Investoren des Menschenhandels. "Sie leihen mir zum Beispiel 100.000 Dinar. Und ich gebe ihnen einen Monat später, sobald die Überfahrt gelungen ist, 120.000 Dinar. Das ist doch eine gute Investition."

Das größte Problem besteht mittlerweile in der Beschaffung der Boote. "Früher überredeten wir die Fischer, uns ihre Boote zu überlassen, indem wir den doppelten Preis bezahlten. Diese meldeten ihr Boot dann als verschwunden, als ob es gestohlen worden sei. Doch mittlerweile gibt es immer mehr Polizeikontrollen und die Fischer haben Angst, dass man sie belangen könnte. Also lassen wir hier, in der Gegend von Sfax, Holzboote bauen, in gerade mal fünf bis sechs Tagen. Die Einzelteile sind bereits vorgefertigt, das Boot muss nur noch zusammengebaut werden. Aber das ist teuer."

Sein ganzes Leben lang will Hassan diesen Job nicht machen. "Ich habe mir ein Ziel gesetzt, eine ganz bestimmte Summe, mit der ich dann ein persönliches und legales Projekt verwirklichen will." Er hat inzwischen auch Kontakt mit anderen Schleppern. "Zwischen uns gibt es keinen Konkurrenzkampf", erklärt er. "In unserem Metier ist die Nachfrage enorm: Wir haben alle genug Arbeit. Ich muss sogar viele Anfragen ablehnen."

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Die Schlepper helfen sich seinen Angaben zufolge sogar gegenseitig. Sie arbeiten in verschiedenen Gruppen, getrennt, aber befreundet. "Wir tauschen auch Informationen aus, vor allem über die Polizei. Und jedes Mal bezahlen wir uns gegenseitig." Besonders jetzt, da ein Teil der Beamten von Polizei und Nationalgarde, zu der wiederum die Küstenwache gehört, in ein neues Dienstgebäude umzieht.

"Wir müssen herausfinden, wen von den Neuen wir bestechen können und wen nicht. Es gibt Unbestechliche, aber auch diejenigen, die Geld dafür akzeptieren, dass sie auf See und auch an Land ein Auge zudrücken. Wir versuchen also, Informationen über diese Personen zu bekommen. Ich wende mich dabei an die Schlepper in den Orten, in denen sie vorher Dienst taten."

Die Zeit für das Interview ist vorbei, das Geschäft ruft. Hassan lenkt seinen Wagen wieder hinaus in das Hupkonzert von Sfax: Diesmal nicht ganz so verbissen, fast als habe es ihn beruhigt, über das gesprochen zu haben, womit er sein Geld verdient.


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