Meinungsfreiheit in Deutschland Selbstzensur greift um sich

Von Frauke Rostalski

Frauke Rostalski ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Sie ist Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Stand: 10.12.2025 Lesedauer: 6 Minuten

Ist der Rückgang der Meinungsfreiheit bloß ein Gefühl? Rechtsprofessorin Frauke Rostalski widerspricht: Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sei in Deutschland zuletzt massiv eingeschränkt worden - und die Bundesregierung plane weitere Verschärfungen.

Frauke Rostalski, Jura-Professorin an der Universität zu Köln
Quelle: PASCAL BUENNING

Kürzlich wurde in der reichweitenstarken Talk-Sendung "Markus Lanz" über den "Wandel der Debattenkultur in Deutschland" gesprochen. Der Sache nach ist dies zu begrüßen. Die Meinungsfreiheit ist gerade in den vergangenen Jahren mehr und mehr unter Druck geraten. Dies einmal vor großem Fernsehpublikum bei einem öffentlich-rechtlichen Sender zu besprechen, war eigentlich überfällig.

Gleichwohl lässt die Talkrunde die juristisch informierte Zuschauerin ernüchtert zurück. Das liegt vor allem daran, dass das Problem der Begrenzung von Meinungsfreiheit von Anfang an mit der Maßgabe diskutiert wurde, dass es sich dabei um ein bloßes Gefühl handele. In der Tat hatten noch nie so viele Menschen in Deutschland das Gefühl, ihre politische Meinung nicht frei äußern zu können. Ganz zu Recht verwiesen die Gäste der Sendung darauf, dass hierin ein Problem für die Demokratie liegt.

Wenn ein signifikanter Anteil der Bevölkerung meint, sich nicht länger politisch frei äußern zu können, ist es um die praktische Realisierung des Herzstücks der freiheitlichen Demokratie - des offenen Diskurses - schlecht bestellt. Anstatt zu sprechen, werden Menschen schweigen mit der unweigerlichen Folge, dass wichtige Stimmen und Argumente kein Gehör finden.

Muss man sich also, wie in der Sendung geschehen, bloß (sicherlich: zu Recht) darüber echauffieren, wie rüde die Umgangsformen im digitalen Raum sind, dass Shitstorms nicht sein sollen und dass wir an dem Gefühl der Menschen arbeiten müssen - indem wir ihnen Mut machen, sich doch (wieder) politisch zu äußern, eben "resilienter" zu werden? Die Antwort lautet klar: Nein.

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So wichtig diese Fragen und Ansatzpunkte nämlich sein mögen, sie befassen sich eben bloß mit der einen Seite der Medaille, und zwar derjenigen, über die einfacher zu sprechen ist und für die sich vielleicht sogar leichter Lösungen finden lassen. Natürlich sollten diese Gespräche geführt werden. Und doch droht dabei, wie in der Sendung leider geschehen, der eigentliche Kern des Problems verschüttzugehen - die Tatsache nämlich, dass die Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahren hinzunehmen hatte, keine bloße Gefühlsangelegenheit sind.

Im Klartext: Die Menschen empfinden es nicht bloß so, dass es schwerer geworden ist, die eigene politische Meinung zu äußern. Ihnen ist durch diverse gesetzgeberische Akte und rechtspraktische Verschiebungen tatsächlich Meinungsfreiheit genommen worden.

Beispiele dafür, wie sich die Meinungskorridore nicht bloß gefühlsmäßig, sondern rechtlich verengt haben, lassen sich zahlreiche finden. Besonders augenfällig sind die Ausweitungen, die das Strafgesetzbuch in diesem Bereich erfahren hat. Verschärft wurden in den letzten Jahren die Beleidigungstatbestände - beispielsweise durch die Einführung der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB), die allgemeine Erhöhung von Strafrahmen und die Ausweitung des § 188 StGB (Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung) auf die kommunale Ebene, durch Erfassung der Beleidigung und die Veränderung in ein relatives Antragsdelikt.

Strafrecht beschränkt die Meinungsfreiheit immer mehr

Daneben wurde der Vorschrift der Volksverhetzung (§ 130 StGB) ein neuer Absatz hinzugefügt, der unter bestimmten Voraussetzungen das Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen völkerstrafrechtlicher Verbrechen erfasst. Dazu tritt die Sanktionsbewehrung des "Dead Namings", also der Offenlegung der ursprünglichen Identität von Personen vor einer Geschlechtsumwandlung, und der "Gehsteigbelästigung", die bestimmte Meinungsäußerungen gegenüber Schwangeren betrifft, die sich in der Nähe einer Beratungsstelle oder einer Einrichtung aufhalten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht nunmehr Verschärfungen vor, die mitunter noch über das Eingriffsniveau der bisherigen Gesetzeslage hinausgehen. So wollen die Koalitionäre "im Rahmen der Resilienzstärkung unserer Demokratie" den Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung nach § 130 StGB regeln. Die Vorschrift soll zum Schutz vor "Hass und Hetze" weiter verschärft werden. Auch soll eine mögliche Strafbarkeit des Teilens von antisemitischer und extremistischer "Hetze" in geschlossenen Chatgruppen durch Amtsträger und Soldaten im Zusammenhang mit der Dienstausübung geprüft werden. Und es ist ein Verbot des Einsatzes von Bots und Fake Accounts geplant, wenn diese zur Informationsmanipulation verwendet werden.

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Doch damit nicht genug. Gerade Veränderungen in der Strafverfolgung haben in der jüngeren Zeit deutlich gemacht, wie sehr sich der Raum des rechtlich Sagbaren verkürzt hat. Weitreichende Ermittlungsmaßnahmen wie Hausdurchsuchungen und Verurteilungen richten sich immer häufiger gegen Äußerungen, die lange Zeit als zu geringfügige Ehrangriffe bewertet und deshalb nicht verfolgt wurden.

Die Rede ist von gegen Politiker gerichteten Bezeichnungen wie "Schwachkopf", "Vollidiot", "Vollpfosten", "dümmste Außenministerin der Welt", "aufgedunsene Dampfnudel", "bösartiger Versager", "Kriegstreiberin", "dahergelaufener Trottel", "korrupte[r] Speichellecker" und "Drecks Suffkopf". Der Staat ist heute weniger tolerant mit verbalen Angriffen als noch vor einigen Jahren, insbesondere, wenn es um Beleidigungen oder Ehrverletzungen gegenüber Politikern geht.

Einmal weg vom Strafrecht: Empfindliche Beschneidungen der Meinungsfreiheit finden sich in einem für Deutschland unmittelbar geltenden europäischen Rechtsetzungsakt, dem Digital Services Act. In der Vergangenheit hat es immer wieder Schwierigkeiten gegeben, rechtswidrige Inhalte von Social Media zu löschen, weshalb der Digital Services Act nunmehr die Plattformbetreiber stärker als bislang in die Pflicht nimmt. Ein zentrales Werkzeug bieten die sogenannten "Trusted Flagger", vertrauenswürdige Hinweisgeber, die in Deutschland von der Bundesnetzagentur mit ihrer Aufgabe betraut werden und deren Meldungen bevorzugt zu behandeln sind.

Trusted Flagger melden auch erlaubte Meinungen

Die damit einhergehenden Eingriffe in die Meinungsfreiheit sind nicht ungefährlich. Juristisch ist es nicht immer eindeutig zu sagen, welche Äußerung zulässig ist und welche nicht. Naheliegend ist es daher, dass "Trusted Flagger" auch rechtmäßige Meinungsinhalte zur Löschung melden. Um diese Konsequenz, die viele wie eine Bestrafung erleben, zu vermeiden, halten sich Menschen im digitalen Raum selbst mit Äußerungen zurück, die eigentlich von der Meinungsfreiheit gedeckt sind - Selbstzensur greift um sich.

Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass die Bundesnetzagentur in ihren Leitlinien Trusted Flaggern die Aufgabe erteilt, "Hassrede", "Diskriminierung" oder Inhalte, die "negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs" haben, "auf[zu]spüren". Die Begriffe sind nicht nur konturlos, sie umfassen entgegen den Vorgaben des Digital Services Act gerade auch erlaubte Meinungskundgaben. Sie drohen damit zum Einfallstor für die Meldung rechtmäßiger Meinungen zu werden, die politisch oder gesellschaftlich nicht gewünscht sind. Dass der Digital Services Act als scharfes Schwert gegenüber Plattformbetreibern eingesetzt wird, zeigt im Übrigen der gegenwärtig schwelende Konflikt zwischen EU und Elon Musk. Sollte X den Vorgaben der EU nicht nachkommen, droht gar ein Verbot der Plattform - dass hierin ein intensiver Eingriff in die Meinungsfreiheit aller User zu sehen wäre, bedarf kaum der Erwähnung.

Weitere Beispiele ließen sich benennen. Sie alle zeigen: Die Gewährleistung von Meinungsfreiheit ist nicht bloß gefühlt geringer geworden - die Rechtsentwicklung bestätigt vielmehr eindeutig, dass das Gefühl auf veränderten Gesetzen und einer Anwendungspraxis beruht, die die Meinungsfreiheit stärker beschneiden als zuvor. Zur Debatte darüber, wie die Gesellschaft damit umgehen möchte, gehört es, diese unangenehme Wahrheit in das Gespräch einzuführen und nicht auf der Ebene der Gefühlsanalyse zu verharren.


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