Die Ökonomin Mariana Mazzucato berät Regierungen auf der ganzen Welt.
Gastautor Thorsten Giersch
Dienstag, 16.05.2023, 12:33
Hoher Besuch einer weltweit bekannten Ökonomin, von der vor allem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck viel hält: Mariana Mazzucato hielt kürzlich Hof im Bundestag. Was sie dort sagte und wie Fachleute ihre höchst umstrittenen Thesen bewerten.
Wenn die deutsche Wirtschaft ein Fußballspiel wäre, welche Rolle hätte der Staat? Unsere Form des Kapitalismus basiert auf der Annahme, dass er der Schiedsrichter wäre. Walter Eucken, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft, hat es vor einigen Jahrzehnten so formuliert: "Wir brauchen den starken Staat, der Regeln setzt und die Durchsetzung kontrolliert." Geht es nach Mariana Mazzucato, wäre der Staat Spielmacher, Torwart und Stürmer in einem.
Die weltbekannte Ökonomin war kürzlich im Bundestag zu Gast. Ihr Credo lautet kurzgefasst: Im Kampf gegen die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - vor allem dem Klimawandel - sei der Markt überfordert. Den Unternehmen mangele es am Willen, den richtigen Anreizen und der Übersicht, das Notwendige zu tun. Also muss es der Staat richten. Den Rahmen zu setzen, reicht nicht mehr. Es braucht der "unternehmerischen Staat", der aktiv in Märkte eingreift und privatwirtschaftliche Entscheidungen lenkt.
Mit dieser Botschaft tourt Mariana Mazzucato durch die Welt, schreibt Gastbeiträge, hält Vorträge. Kritische Interviews mit Journalisten sind dagegen weniger ihr Ding, auch unsere Anfrage wurde bisher nicht beantwortet. Viele Regierungsvertreter hören ihr genau zu, hierzulande vor allem Robert Habeck (Grüne).
Der Bundeswirtschaftsminister gab seine Wertschätzung in einem Interview mit der Frauenzeitschrift "Myself" ab, indem er Mazzucato eine von sieben Frauen nannte, die sein Leben verändert hätten. Der "Spiegel" gönnte ihr eine Cover-Story und kürte sie zur "wahren Erbin von Karl Marx". Unterstützt vom staatlichen University College in London kennt ihr Sendungsbewusstsein praktisch keine Grenzen. Bühne statt Elfenbeinturm - so das Motto.
Nun kann niemand etwas dagegen haben, wenn Politikerinnen und Politiker so relevante Bücher lesen, wie es die von Mariana Mazzucato unzweifelhaft sind. Spannend ist, wie kritisch man solche Thesen aufnimmt und wie der wesentliche Gestalter der Sozialen Marktwirtschaft des Jahres 2023, Habeck, mit diesen umgeht. Im Kern geht es dabei um eine Dreifachfrage: Ist der Markt mit den Herausforderungen unserer Zeit überfordert? Kann es ein unternehmerischer Staat besser? Und wenn ja, trifft das auch auf den deutschen Staat zu mit all seinen Faxgeräten, Bürokratiemonstern und Abläufen, die wir in den vergangenen Jahren so bewundern durften?
Ökonomin Mariana Mazzucato hat bereits 2013 in einem Buch das Konzept einer alternativen Wirtschaftspolitik entworfen: "The Entrepreneurial State". Ihre These lautet: Die großen weltwirtschaftlichen Probleme, auch der Klimawandel, ließen sich letztlich nur durch eine Änderung der wirtschaftspolitischen Konzeption lösen, über eine staatlich gelenkte Wirtschaft.
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Der Vergleich mit Marx zieht aber nicht: Mazzucato sieht weder im Kommunismus noch im Sozialismus die Lösung, sondern in einer vom Staat gelenkten Marktwirtschaft, in der Politiker und ihre Beamten die großen industriepolitischen Projekte vorgegeben. Private Unternehmen werden in ihren Zielen vom "fortschrittlichen Engagement" der Bürger getragen und angeleitet.
Ihre Vorbilder heißen nicht Marx und Lenin, sondern Karl Polanyi und Joseph A. Schumpeter. Von Polanyi hat Mazzucato die Idee einer gesellschaftlichen Einbettung wirtschaftlicher Prozesse in die Lebenswelt der Menschen. Von Schumpeter übernimmt sie den Begriff des Unternehmers als Treiber von Fortschritt und Wachstum, den sie analog auf die neue Rolle des Staates überträgt. Klingt nach dem New Deal Franklin D. Roosevelts.
Es gibt diverse Beispiele, in denen es richtig war, dass der Staat ins Risiko gegangen ist: Nahezu unbestritten ist ihre Analyse, dass der Staat immer wieder einen Teil der Risiken übernehmen sollte, die für einen Einzelinvestor zu hoch wären. Maßnahmen gegen den Klimawandel gehören dazu. Der Kern von Mazzucato basiert auf der Vorstellung eines weiseren, vorausschauenden Staates - und dass Deutschland ein solcher ist, darüber darf man diskutieren.
Mariana Mazzucato hatte für den Wirtschaftsausschuss des Bundestages recht konkrete Vorschläge im Gepäck - gerade beim Klima: Anreize wie der Emissionshandel und eine CO2-Steuer seien bestenfalls ein guter Anfang. Besser wäre aus ihrer Sicht, der Industrie konkrete Leitlinien vorzugeben. Zum Beispiel, dass nur noch "grüner" Zement verwendet werden soll.
Solche dirigistischen Vorgaben kennen die Deutschen gerade vom Gebäude-Energie-Gesetz GEG, wo geregelt werden soll, welche Heizungen Privathaushalte noch einbauen dürfen. Mazzucatos Vorschlag: Wenn das mehr kostet - und das tut es fast immer - muss der Staat das aus Steuermitteln ausgleichen. Das Finanzministerium wird dazu eine Meinung haben. Der "große Designfehler" der Klimapolitik lautet für Mazzucato: Es braucht noch viel mehr Zwang. Und das international. Wer China zu solcherlei zwingen will, ist die andere Frage.
Europa soll "ehrgeizig investieren und staatliche Kapazitäten aufbauen". Der Blick in die USA und nach China würden zeigen: "Die Industriepolitik ist zurück. Die Vereinigten Staaten und China investieren massiv, um sich strategisch zu positionieren und sehen sich als Vorreiter beim grünen Wandel." Die Billionen Dollar, die US-Präsident Joe Biden im Rahmen des Inflation Reduction Act investiert, betont sie dabei sehr wohl. Die Zahlungsunfähigkeit, vor der die USA gerade stehen, geht dagegen unter.
Der im Januar 2023 angekündigte Green-Deal-Industrieplan der EU-Kommission sei ein guter Anfang, weise aber zwei entscheidende Mängel auf: "Es werden keine neuen europäischen Mittel verwendet und man beschränkt sich auf die Verwendung von Subventionen als Investitionsinstrumente." Was Christian Lindner (FDP) wohl auch nicht so gern hören dürfte: Die EU inklusive Deutschland sollen "ehrgeiziger investieren, anstatt zur Sparpolitik zurückzukehren". Mazzucato geht den Bundesfinanzminister direkt an und warnt davor, dass Europa "Gefahr läuft, erneut in die Sparfalle zu tappen".
Dass Lindner am 25. April die EU-Kommission aufforderte, Defizite und Schuldenrationen zu reduzieren - das klang wie nach der Finanzkrise 2008. Damals hätten laut Mazzucato die Sparanstrengungen "zur Aushöhlung des öffentlichen Sektors, zur wirtschaftlichen Stagnation und zur Vergrößerung der Ungleichheiten" in ganz Europa geführt. Diesen Fehler solle man nicht wiederholen, es brauche investitionsgesteuertes Wachstum und kompetente öffentliche Verwaltungen.
In diesem Teil der Argumentation ist Mazzucato seit Jahren am anfälligsten: Die Qualität einer Verwaltung ist bei weitem nicht nur mit Geld zu erreichen. In ihrem jüngst veröffentlichten Buch "Die große Consulting-Show" kritisiert sie Staaten dafür, zu sehr auf die Leistungen von Beratungen zu setzen, anstatt die Expertise selbst aufzubauen. Das gilt vor allem für die digitale Transformation. Wie das genau gehen kann, skizziert sie nur grob, benennt die Probleme auf diesem Weg aber immerhin in einer Klarheit, wie sie nur selten zu hören ist.
Eine weitere Empfehlung an Deutschland und die EU lautet, strategisch in die Sektoren zu investieren, die für mehr Klimaschutz zentral sind. Als Positiv-Beispiel nannte sie die Stahlbranche in Deutschland, die sich durchaus als Vorreiter auf dem Weg zur CO2-armen Produktion bezeichnen kann. Die KfW soll der Schwerindustrie ein Programm für grüne Anleihen zur Verfügung stellen. Die Unternehmen "profitieren von den First-Mover-Vorteilen und der deutsche Stahlsektor bleibt weltweit wettbewerbsfähig". Dass Unternehmen wie Georgsmarienhütte hier auf bestem Weg sind und vor allem auf den Staat warten, um Windkrafträder für "grünen Strom" bauen zu dürfen, erwähnt sie nicht, weiß aber sicherlich Robert Habeck.
Außerdem soll die EU die Zusammenarbeit zwischen Regierungsabteilungen, Unternehmen und Wissenschaft forcieren. Sie vergleicht das mit der Apollo-Mission in den USA, den ersten bemannten Flug zum Mond - nur eben auch für die Bereiche Ernährung, Materialien, Elektronik und Software. Dafür brauche es mehr öffentlich-private Partnerschaften. Da gehe es nicht nur um direkte Investitionen, sondern auch darum, die Beschaffung von Ressourcen und den Aufbau von Infrastruktur staatlich zu lenken.
Dazu gehöre auch eine engere Zusammenarbeit mit den USA: "Ein europäischer Zusammenstoß mit der Biden-Regierung wäre produktiv. Es könnte zu einem grünen, subventionsgetriebenen Wettlauf um die Umwelt führen." Nicht zuletzt empfiehlt Mazzucato eine stärkere Angleichung zwischen den europäischen Mitgliedstaaten. Was einfach klingt, dürfte weit komplizierter umzusetzen sein als die Mondmission.