AKTUALISIERT AM 10.07.2019-09:56
Maaßen teilte einen Link zu einem Artikel der "Neuen Zürcher Zeitung" mit der Überschrift: "In deutschen Städten sieht die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen". Darin heißt es weiter: "Frankfurt am Main, Offenbach, Heilbronn, Sindelfingen - in diesen und anderen Städten sind Deutsche ohne Migrationshintergrund nur noch die größte Gruppe, stellen aber keine absolute Mehrheit mehr dar." Maaßen schrieb dazu: "Für mich ist die NZZ so etwas wie "Westfernsehen"."
Mit "Westfernsehen" wurden in der ehemaligen DDR die Fernsehprogramme aus dem Westen bezeichnet, deren Konsum im Osten Deutschlands nicht erlaubt war.
Quelle: gekürzt aus faz vom 10.07.2019
Michael Rasch, Frankfurt 9.7.2019
Bereits in den 1980er Jahren propagierten die Grünen "Multikulti", also eine multikulturelle Gesellschaft. Damals standen vielen bürgerlichen Wählern bei dem Gedanken die Haare zu Berge, obwohl Multikulti längst begonnen hatte. Diese Realität hat sich in den vergangenen Jahrzehnten akzentuiert. Der Begriff ist allerdings aus der Mode gekommen. Heutzutage spricht man von Vielfalt und bunter Gesellschaft. In deutschen Grossstädten geht inzwischen die Mehrheitsgesellschaft ihrem Ende entgegen - das bedeutet, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund (nach Definition des Statistischen Bundesamts) nicht mehr die absolute Mehrheit (>50%) sind, sondern neben Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern lediglich noch die grösste Gruppe darstellen.
In Frankfurt am Main gibt es die Mehrheitsgesellschaft bereits nicht mehr. Dasselbe gelte für kleinere Städte wie Offenbach (nur noch 37% Deutsche ohne Migrationshintergrund), Heilbronn, Sindelfingen und Pforzheim, erklärt der Migrationsexperte Jens Schneider, der an der Universität Osnabrück forscht. In zahlreichen anderen deutschen Städten werde bald das Gleiche passieren. Anfang 2018 lebten in Frankfurt laut dem statistischen Jahrbuch der Stadt 46,9% Deutsche ohne Migrationshintergrund. Deutsche mit Migrationshintergrund kamen auf 23,6% und Ausländer auf 29,5%, zusammen also 53,1%. Der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken. Die Schwelle von 50% wurde erstmals im Jahr 2015 mit 48,8% unterschritten. Schneider wehrt sich allerdings dagegen, Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer quasi in einen Topf zu werfen, und plädiert wie viele seiner Kollegen dafür, die Kategorien zu überarbeiten. Der Begriff Mehrheitsgesellschaft transportiere ein falsches Bild, schliesslich seien rund zwei Drittel aller Kinder von Deutschen mit Migrationshintergrund (inklusive Kindern von Ausländern) in Deutschland geboren. Sie seien damit Deutsche und hätten oft eine berufliche Karriere vor sich, die sehr viel besser sei als etwa diejenige ihrer Eltern.
Nach der bisherigen Kategorisierung ist Frankfurt am Main bis jetzt wohl die einzige Grossstadt, in der sich mit 53,1% Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern die Mehrheitsgesellschaft umgekehrt hat. Laut dem "Interkulturellen Integrationsbericht 2017" der Stadt München weisen beispielsweise Nürnberg (44,6%), Stuttgart (44,1%), München (43,2%) und Düsseldorf (40,2%) ebenfalls hohe Anteile von Deutschen mit Migrationshintergrund und Ausländern auf.
In Stuttgart beträgt der derzeitige Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und von Ausländern 46%. Laut der Pressestelle der baden-württembergischen Landeshauptstadt haben allerdings bereits fast 60% der unter 18-jährigen Stuttgarter einen Migrationshintergrund (inklusive Ausländern). Daher werde sich auch das gesamte Verhältnis in den kommenden Jahren ändern, so dass es keine ethnisch definierte Mehrheit mehr geben werde, wie dies in anderen Kommunen bereits heute der Fall sei.
Betroffen vom Ende der Mehrheitsgesellschaft sind fast ausschliesslich westdeutsche Städte sowie oftmals Städte im süddeutschen Raum, was an der Wirtschaftskraft des Südens und am damit verbundenen Bedarf an Arbeitskräften liegt. Allerdings gibt es auch zahlreiche Städte, in denen der Anteil der genannten Einwohnergruppen deutlich geringer ist, sie liegen tendenziell im Osten und im Norden Deutschlands. So beträgt der Anteil beispielsweise in Hannover und Berlin nur rund 30%, in Kiel 24%, in Potsdam 12% und in Dresden 11% (Zahlen von Ende 2016). Die ostdeutschen Bundesländer hatten vor der Wiedervereinigung eine sehr viel geringere Zuwanderung als die westdeutschen Länder, was sich bis heute in den Zahlen spiegelt.
Eine Person hat laut dem Statistischem Bundesamt dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist. Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen:
Betrachtet man das gesamte Bundesgebiet, hatte Deutschland im Jahr 2017 laut Statistischem Bundesamt 81,7 Mio. Einwohner, unter ihnen 62,5 Mio. Deutsche ohne Migrationshintergrund (76,5%). Auf Bundesebene bleiben Deutsche ohne Migrationshintergrund somit auf absehbare Zeit in der absoluten Mehrheit. Deutsche mit Migrationshintergrund kommen derzeit auf einen Anteil von 12,5% (9,8 Mio.) an der Gesamtbevölkerung und Ausländer auf einen von 11,9% (9,4 Mio.). Doch auch hier dürfte der sinkende Trend beim Anteil von Deutschen ohne Migrationshintergrund kontinuierlich anhalten. Bei Kindern zwischen 0 und 10 Jahren beträgt der Anteil der Deutschen ohne Migrationshintergrund noch gut 60%, bei den 10- bis 15-Jährigen liegt er bei 64%. Deutsche bilden weiterhin die absolute Mehrheit
Die beiden Gruppen Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer sind sehr heterogen. Zuerst kamen nach dem Zweiten Weltkrieg die Vertriebenen. Bereits 1955 schloss die Bundesrepublik das erste Anwerbeabkommen mit Italien und Ländern wie Spanien und Portugal, wie Schneider sagt. Zuwanderung sei ein ständiger Fluss. Den ersten europäischen Arbeitsmigranten folgten später vor allem Türken, aber auch Marokkaner und Südkoreaner, die ebenfalls als Arbeitskräfte ins Land geholt wurden. Danach kamen die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion dazu, die in die Heimat ihrer Vorfahren zurückkehrten, sowie während des Balkankrieges Flüchtlinge aus dieser Region. Mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union zog Deutschland viele Menschen aus anderen Mitgliedstaaten an, nicht zuletzt aus Kroatien, Rumänien und Bulgarien. Die Flüchtlingswelle Mitte dieses Jahrzehnts sorgte schliesslich für einen weiteren Schub bei der Gruppe der Ausländer.
Städte wie Frankfurt am Main, in denen es mehrheitlich Minderheiten gibt, sind alles andere als ein deutsches Phänomen. In amerikanischen Grossstädten kennt man dies schon seit vielen Jahren. Auch in Europa gibt es in Städten wie Amsterdam, Brüssel oder London keine Mehrheit der "Ureinwohner" mehr. In Amsterdam sind die Niederländer ohne Migrationshintergrund bereits seit dem Jahr 2011 in der Minderheit. Marokkaner bilden dort mit 9% die grösste Ausländergruppe. Bei Kindern unter 15 Jahren ist sogar nur noch eines von drei Kindern rein niederländischer Herkunft. Integration finde in manchen dieser Städte nicht mehr statt, sondern man organisiere im Prinzip schlichtweg das Zusammenleben, sagte der niederländische Integrationsforscher Maurice Crul im Jahr 2018 in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Diversität sei die neue Norm, was allerdings zu kultureller Verunsicherung in der Mehrheitsgesellschaft führen könne.
Quelle: nzz vom 10.07.2019