Interview: Tilman Steffen
Redakteur im Ressort Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, ZEIT ONLINE
21. Oktober 2021, 17:00 Uhr 40 Kommentare
736 Abgeordnete sitzen jetzt im Bundestag, 282 sind neu dabei. Was wollen die Neuen im Parlament bewirken, welche Prägung und Lebenserfahrung bringen sie mit und was hat sie in ihren ersten Tagen überrascht? ZEIT ONLINE stellt ausgewählte Abgeordnete vor. Heute Christian Leye, 40 Jahre alt, seit 2016 Landesvorsitzender von Die Linke in NRW.
Leye ist Volkswirt, in Bochum geboren, seine Familie lebt seit Generationen im Ruhrpott, sein Großvater war Bergmann. Schon seine Eltern machten sich als Betriebsräte für soziale Fragen stark. Leye gehört zum Kreisverband Duisburg. 2017 verpasste er die Wahl in den Landtag. Zuletzt arbeitete er im Wahlkreisbüro von Sahra Wagenknecht.
ZEIT ONLINE: Herr Leye, der Bundestag hat nun 736 Abgeordnete. Warum braucht es dort unbedingt Sie?
Christian Leye: Na ja, ich bin nicht unersetzlich. Aber ich will mich Themen widmen, die nicht genug beachtet werden. In NRW gibt es große Probleme zu lösen, etwa die Stahlindustrie zukunftsfest zu machen. Allein in Duisburg arbeiten in dieser Sparte 17.000 Menschen, die Zulieferer nicht mitgerechnet. Der Staat muss Geld in die Hand nehmen, um diese Arbeitsplätze zu retten. Dabei muss gelten: kein Geld ohne Gegenleistung - also Mitbestimmung, sozialökologischen Umbau und Arbeitsplatzgarantien. Dafür schlagen wir eine Industriestiftung in öffentlicher Hand vor.
ZEIT ONLINE: Was bringen Sie mit und was befähigt Sie dafür?
Leye: Neben meinem Abschluss als Volkswirt bin ich in dem Bereich bereits seit Jahren aktiv und habe mich um Kontakte in den Gewerkschaften und zu Betriebsräten vor Ort bemüht. Ich möchte deshalb im Bundestag auch gern mein Wissen als Ökonom einbringen.
ZEIT ONLINE: Die Linke wird im Bundestag Opposition sein. Wie wollen Sie die Regierungspolitik beeinflussen, etwa beim Thema Stahlindustrie?
Leye: Regierungsentscheidungen stehen am Ende von politischen Prozessen. Davor gilt es, den Rücken gerade zu machen für Anliegen aus der Gesellschaft, und das geht eben auch in der Opposition. Das Thema Mindestlohn beispielsweise hat meine Partei jahrelang in der Opposition allein vertreten, bevor andere reagiert haben. Um Verbesserungen durchzusetzen, ist unerlässlich, dass es gesellschaftlichen Druck gibt, der die Regierenden unter Zugzwang setzt. Diesen Druck möchte ich mitorganisieren.
ZEIT ONLINE: Was geben Sie auf, um Ihr Mandat wahrzunehmen?
Leye: Zum Beispiel meine Arbeit im Wahlkreisbüro von Sahra Wagenknecht, aber auch die Position des Landessprechers in NRW. Hinzu kommt die persönliche Umstellung: Das Pendeln nach Berlin wird den Kontakt zur Familie erschweren. Aber mein Lebensmittelpunkt wird definitiv Duisburg bleiben - denn ich bin ein Familienmensch.
ZEIT ONLINE: Über die Website Ihres Landesverbandes bin ich auf Ihr Facebook-Profil gestoßen: Ihr letztes Posting dort ist vom Dezember 2020, Ihr erster und einziger Tweet von 2018. Wie sind Sie mit dieser mageren Vermarktungsstrategie eigentlich in den Bundestag gekommen?
Leye: Das tut mir leid, da sind Sie auf einer alten Facebook-Site gelandet, die noch aus dem Landtagswahlkampf 2017 stammt. Ich habe einen anderen, aktiven Facebook-Kanal, der auch bespielt wird. Twitter habe ich bisher nicht so stark genutzt. Ich werde die Links auf der Website des Landesverbandes aktualisieren.
ZEIT ONLINE: Sie haben als Bundestagsabgeordneter jetzt eine Bahncard 100, der Fahrdienst des Bundestages bringt Sie auf Anruf überall hin, ihre Diät beträgt 10.000 Euro monatlich - wie fühlt sich dieses Berufspolitikertum für Sie als gewerkschaftsnaher Mensch an?
Leye: Das fühlt sich schon etwas komisch an. Mit dem Fahrdienst habe ich mich noch gar nicht weiter befasst. Mit der Bahncard zu reisen, ist für mich als Berufspendler normal. Aber derzeit ist so viel zu tun, dass ich das alles noch gar nicht ernsthaft reflektieren konnte.
ZEIT ONLINE: Ihre ersten Tage in Berlin liegen bereits hinter Ihnen. Wie sieht Ihr Alltag derzeit aus?
Leye: Ein Alltag hat sich noch nicht eingestellt. Ich hatte eine konstituierende Fraktionssitzung und noch ein paar weitere Termine. Ich suche derzeit Mitarbeiter für mein Berliner Büro. Einige bringe ich mit, einige kann ich möglicherweise von scheidenden Abgeordneten übernehmen. Wahrscheinlich in meiner Wahlkreisstadt Duisburg und noch an einem anderen Ort in NRW werde ich Wahlkreisbüros eröffnen, wofür ich weiteres Personal brauche. In Berlin übernachte ich im Hotel, werde mir aber mittelfristig eine kleine Wohnung suchen.
ZEIT ONLINE: Was hat Sie erstaunt oder gar eingeschüchtert?
Leye: Der Bundestag wirkt auf mich noch wie ein großes Raumschiff. In den parlamentarischen Abläufen bin ich noch nicht wirklich drin. So kann ich dazu erst in einigen Wochen etwas sagen. Mein erster Eindruck ist, dass in Berlin sehr viel hektischer kommuniziert wird als in NRW.
ZEIT ONLINE: Wie stellen Sie sich parlamentarische Willensbildung vor? Was halten Sie etwa von Fraktionsdisziplin?
Leye: Jeder Abgeordnete ist seinem Gewissen verpflichtet, dafür gibt es gute Gründe. Zugleich ist es natürlich sinnvoll, dass sich eine Fraktion darüber austauscht, wie sie politisch auftreten möchte.
ZEIT ONLINE: Sie gehören zum linken Wagenknecht-Lager in der Partei. Das wirkte zuletzt sehr isoliert in Berlin, auch in der eigenen Partei. Wie wirkt sich das aus?
Leye: Ich erwarte, dass wir eine ernsthafte innerparteiliche Debatte führen, wie wir die Menschen vertreten, die von ihrer Arbeit leben müssen und die von Armut bedroht sind. Dem müssen wir uns in dieser ernsten Situation seriös stellen: Für wen machen wir Politik und wie machen wir das am besten? Das ist wichtiger als die persönliche Verortung.
ZEIT ONLINE: Politische Gegner rügen an Ihrer Partei oft die fehlende Abgrenzung von linken Gruppen, die bereits ins Visier der Justiz oder des Verfassungsschutzes gerieten oder Gewalt nicht konsequent ablehnen, wie etwa die Antifa. Wo stehen Sie da und wie bewerten Sie das?
Leye: Antifaschismus sollte zum Grundkonsens aller Abgeordneten gehören. Dass Teile meiner Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden, ist absurd. Die Parteimitglieder, die ich kenne, entfalten keine staatsumstürzlerischen Aktivitäten. Dass man konsequent für eine Welt in Frieden und ohne Ausbeutung und Umweltzerstörung eintritt, ist doch kein Grund für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz.
ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass hinter der Beobachtung eine politische Agenda des Verfassungsschutzes steht?
Leye: Der Verfassungsschutz schaut in Deutschland traditionell eher nach links als nach rechts, das ist auch geschichtlich bedingt. Und das ist politisch falsch. Links wird penibel beobachtet, auf der anderen Seite ziehen Rechtsterroristen jahrelang unbeobachtet durch Deutschland und Akten werden geschreddert - wie wir beim NSU gesehen haben. Da fasst man sich an den Kopf.
ZEIT ONLINE: Die neue Parteichefin Janine Wissler trat im Zuge ihrer Kandidatur aus Marx 21 aus, einem vom Verfassungsschutz beobachteten innerparteilichen Netzwerk. Das zeigt doch, dass es diese Verbindungen gibt
Leye: Janine Wissler ist aus einem innerparteilichen Zusammenschluss ausgetreten, weil Sie Parteivorsitzende für alle sein muss, nicht nur für ein Netzwerk oder eine Strömung der Partei. Das ist so üblich und normal.
ZEIT ONLINE: Um ein Haar hätte es keine Linksfraktion im Bundestag mehr gegeben. Wie sollte Ihre Partei aus der Überalterungsfalle und den damit verbundenen Wahlverlusten entkommen?
Leye: Gut gemachte linke Politik ist eine gute Interessenvertretung für die Menschen, die durch ihre Arbeit und oft genug mit wenig Geld über die Runden kommen müssen. Wenn wir die nicht erreichen, müssen wir diskutieren, wie wir das ändern können. Umfragen zeigen: Unsere sozialpolitischen Ansätze haben in der Bevölkerung eine Mehrheit. Wir müssen uns fragen, wieso wir so wenig Wähler damit erreichen. Da hat unsere politische Kommunikation Probleme.
ZEIT ONLINE: Woran sollen wir Sie in vier Jahren messen?
Leye: Dass ich auf dem Teppich geblieben bin. Dass ich mich nicht habe kaufen lassen. Und dass ich mich konsequent für soziale Gerechtigkeit einsetze.
Quelle: Zeit.de vom 21.10.2021