Krieg in der Ukraine: Die Ukraine kämpft nicht für uns

Von Helmut W. Ganser

Brigadegeneral a. D.

14. Januar 2024, 15:29 Uhr

Die Ukraine verteidigt nicht die Freiheit des Westens, sondern ihre eigene. Das ist schwer genug, und ein Siegfrieden ist unrealistisch. Am Ende muss verhandelt werden.

Nahe der Frontlinie bei Bachmut: Ukrainische Soldaten halten Ausschau nach russischen Drohnen.
© Ignacio Marin/Anadolu/Getty Images

Das ist kein Stellvertreterkrieg

Im Einzelnen und zunächst eine Gegenhypothese: Die Ukraine verteidigt im russischen Angriffskrieg ihre eigene nationale Souveränität und Freiheit, nicht die des Westens. Die Freiheit und Sicherheit des Nato-Raums werden durch die Allianz und ihre 31 Mitgliedstaaten, insbesondere durch das US-amerikanische Abschreckungspotenzial, gesichert und notfalls verteidigt.

Richtig ist, dass die ukrainischen Streitkräfte in ihrem heroischen Verteidigungskampf die russische Armee erheblich geschwächt haben, was der Nato Zeit verschafft, um ihre Verteidigungspläne für die Ostflanke zu implementieren. Die Erzählung, dass die Ukraine für das existenzielle westliche Sicherheitsinteresse kämpft, reflektiert jedoch einen Mythos, der diskussionsbedürftig ist. Denn das Narrativ impliziert, dass Deutschland und die anderen Unterstützerstaaten einen Stellvertreterkrieg führen, um die russische Armee nachhaltig zu schwächen, ohne sich selbst der Gefahr auszusetzen, dass ihre Soldaten in Kämpfe verwickelt werden und sterben.

Zehntausende ukrainische Soldaten, viele Familienväter, haben in den Kämpfen bereits ihr Leben verloren, sind verbrannt, zerschmettert worden, verblutet. Sie sind nicht für westliche Sicherheitsinteressen in den Kampf gegangen, sondern für das Überleben ihres eigenen Landes, ihrer Heimat. Hier zeigt sich die ethische Krux der "Sie kämpfen für uns"-Rhetorik. Das reale und legitime politische Motiv für die finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung der Ukraine ist politische Solidarität mit einem völkerrechtswidrig angegriffenen und demokratisch verfassten Nicht-Nato-Staat mitten in Europa.

Das Argument, dass Russland in wenigen Jahren sogar die baltischen Nato-Staaten angreifen wird, wenn die Ukraine den Krieg nicht "gewinnt", ist weit hergeholt. Wie immer man öffentliche Aussagen von Wladimir Putin interpretieren will, seine realen Intentionen bleiben im Dunkeln und sind vermutlich auch wandelbar. Für die Bewertung der künftigen Sicherheitslage Europas und der Nato-Staaten sind letztendlich die militärischen Fähigkeiten der russischen Streitkräfte in den kommenden fünf bis zehn Jahren maßgeblich. Sie sollten im Zusammenhang mit der aufwachsenden Nato-Verteidigung an der Ostflanke analysiert werden.

Die russische Aggression zielte zu Angriffsbeginn auf die Übernahme der Herrschaft über die ganze Ukraine. Dieser Ansatz scheiterte, die angreifenden russischen Verbände wurden von der kleineren ukrainischen Armee weit zurückgeworfen. Nach fast zwei Kriegsjahren hat Russland über die seit 2014 besetzten Gebiete hinaus vermutlich weniger als zehn Prozent des ukrainischen Territoriums erobert und musste sich im Süden durch ein Bollwerk von Stellungen und Sperren gegen angreifende ukrainische Verbände behaupten. Soll Russland mit dieser Armee faktisch willens und in der Lage sein, einige Jahre nach einem Waffenstillstand Nato-Territorium zu bedrohen? Allein angesichts des strategisch-konventionellen Kräfteverhältnisses zwischen der Nato und Russland eine höchst unwahrscheinliche Annahme.

Allerdings ist der zügige Aufwuchs der konventionellen Verteidigungsfähigkeit der Nato, zu der die Bundeswehr einen entscheidenden Beitrag leisten muss, ein wichtiger Faktor in dieser Gleichung. Das gilt auch für den Bestand der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA im Rahmen der Nato. Deren Rücknahme oder Schwächung, etwa im Zuge einer Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident, würde die Allianz erheblich schwächen und weiteren nuklearen Erpressungsversuchen aus dem Kreml aussetzten. Im Blick auf ein derartiges strategisches Worst-Case-Szenario sollte die in Deutschland angelaufene Diskussion um Möglichkeiten und Optionen einer autonomen europäischen nuklearen Abschreckung ernst genommen und versachlicht werden.

Durchhalten nur mit Hilfe

Die nachhaltige finanzielle, humanitäre und militärische Unterstützung des Westens ist für den Erhalt der Souveränität und der Durchhaltefähigkeit der Ukraine essenziell. Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2023, in deren Planung hochrangige US-Offiziere intensiv eingebunden waren, ist in erster Linie an einer verfehlten Lageeinschätzung und einem nicht zielführenden Kräfteansatz gescheitert. Der Versuch, zum Asowschen Meer vorzustoßen, hat zu erheblichen personellen und materiellen Verlusten auf ukrainischer Seite geführt. Im Blick auf das kommende dritte Kriegsjahr steht die Ukraine nunmehr vor der schweren Aufgabe, die seit Herbst 2022 im Wesentlichen unveränderte lange Frontlinie gegen aufgewachsene russische Angriffskräfte zu halten. Allein für diese Zielsetzung und die dazu erforderlichen Verteidigungsoperationen braucht die Ukraine weitere umfangreiche Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen und eine neue Mobilisierungswelle. Mehrere Hunderttausend in die Europäische Union geflüchtete ukrainische Männer, die sich der Wehrpflicht entzogen haben, erschweren die personelle Auffüllung der Verbände.

Alle darüber hinausgehenden Vorstellungen und Forderungen eines ukrainischen Siegfriedens mit einem aus der Pokersprache entlehnten "all in" westlichen Militärmaterials sind militärisch und politisch-strategisch unrealistisch und im Blick auf damit verbundene erhebliche weitere Opferzahlen und materielle Verluste verantwortungslos. Der personelle und materielle Kräftebedarf für eine neue große Offensive mit dem Ziel der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 übersteigt ganz und gar die militärischen Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte, wie die Möglichkeiten der Nato-Staaten im Hinblick auf den erforderlichen Umfang von Waffenlieferungen zu diesem Zweck.

Nato-Staaten müssen einsatzfähig werden

Denn die Nato fordert von ihren Mitgliedstaaten im Rahmen des neuen Kräftemodells der Allianz und der drei Regionalpläne für die Ostflanke einen erheblichen Aufwuchs sowie eine weit schnellere Reaktionsfähigkeit der Bündnisstreitkräfte als bisher. Die vereinbarten Nato-Forderungen an Deutschland haben zur Konsequenz, dass die Bundeswehr in den kommenden Jahren personell und materiell signifikant aufwachsen muss, um der Nato drei Heeresdivisionen und erhebliche Luft- und Seestreitkräfte zur Verfügung zu stellen. Sie ist noch sehr weit von der dafür notwendigen Einsatzfähigkeit entfernt. Abgaben von Großgerät aus Verbänden der Bundeswehr und größeren Beständen an Munition aus Bundeswehr-Depots sind in diesem Zusammenhang nicht weiter vertretbar. Die Produktion von Waffensystemen und Munition in Deutschland muss sowohl für die Bundeswehr als auch für die Ukraine beschleunigt werden.

In den anderen Bündnisnationen sieht die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte nicht viel besser aus. Allein die USA verfügen über sehr große Bestände an Waffensystemen, die sie im Blick auf herausfordernde Szenarien im Indopazifik und im Mittleren Osten aber zusammenhalten. Außerdem gerät die Biden-Regierung immer stärker unter innenpolitischen Druck, die finanzielle und militärische Unterstützung für die Ukraine zurückzufahren. Unter den europäischen Bündnispartnern ragen in absoluten Zahlen nur noch Deutschland und deutlich dahinter Großbritannien als größere Geber von Finanzmitteln und militärischer Ausrüstung heraus. Andere wichtige Nato-Staaten wie Frankreich, Italien, Spanien und Polen haben sich bei der bilateralen Hilfe für die Ukraine längst weit zurückfallen lassen.

Die Vorstellung, dass Europa eine wesentliche Reduzierung der US-Unterstützungsleistungen kompensieren könnte, entbehrt vor diesem Hintergrund jeglicher Grundlage. Leider. Schlichtweg illusionär und politisch-strategisch unangebracht ist die Forderung, dass ausgerechnet die Nichtnuklearmacht Deutschland sich in eine Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine gegen die atomare Supermacht Russland begeben soll, während sich die atomare Supermacht USA und die europäischen Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich zurückhalten.

Angesichts dieser Lage ist im kommenden Jahr die Konzentration der Ukraine auf strategische Verteidigung geboten. Dies gilt für das Halten der langen Front wie für den Schutz der Bevölkerung und Infrastruktur gegen russische Luftangriffe. Auf operativer und strategischer Ebene wird das Kriegsbild in der Ukraine vermutlich einem fortgesetzten Stellungskrieg entsprechen. Gleichwohl sind die personellen Ressourcen der Ukraine begrenzter als die Russlands. Ein längerer Stellungskrieg über 2024 hinaus ginge in erster Linie zulasten der Ukraine. Im kommenden Jahr wird es darauf ankommen, Russland raumgreifende Vorstöße zu verwehren. Dabei besteht die Chance, die russischen Angriffskräfte weiter abzunutzen und zu schwächen.

In der aktuellen für die Ukraine bitteren Pattsituation ist eine Neubewertung der ukrainischen Kriegsziele geboten. Wie definiert die Ukraine künftig Sieg und Niederlage? Mit welchen deklaratorischen und operativen Zielen verbinden etwa die US-Regierung, die Bundesregierung und die britische Regierung sowie die EU-Institutionen ihre künftigen Unterstützungsleistungen?

Die Suche nach Ausstiegsszenarien

Von US-Präsident Joe Biden war im Laufe des Kriegs keine Siegrhetorik zu vernehmen. Wiederholt wurde in Washington geäußert, dass es darum gehe, der Ukraine eine starke Verhandlungsposition zu verschaffen. Relativ wirksame Verhandlungspositionen hatte die Ukraine unter Umständen dreimal in diesem Krieg: Ende März 2022 mit dem absehbaren Scheitern des russischen Angriffs auf Kiew, im Herbst 2022 nach den Rückeroberungen im Raum Cherson und im Raum Charkiw und vor Beginn der Gegenoffensive im Frühjahr 2023.

Oft wird behauptet, dass Putin nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit sei. Er wolle seinen Angriffskrieg auf jeden Fall längerfristig fortsetzen, koste es, was es wolle. Ob dies der Fall ist oder ob der Kreml 2024 zu umsetzbaren Kompromissen bereit sein wird, kann sich jenseits aller russischen Rhetorik nur in konkreten Sondierungen zeigen. Zudem: Angesichts der Überhitzung der russischen Kriegswirtschaft, der hohen Inflation und einem Leitzins von derzeit 16 Prozent dürfte in absehbarer Zeit ein ökonomischer Abschwung erfolgen, den die russische Bevölkerung spüren wird.

2024 sollten, statt auf hoch verlustreiche neue Gegenangriffsoptionen der Ukraine zu setzen, Ausstiegsszenarien aus diesem Krieg sondiert werden. Szenarien-Dialoge zwischen russischen, ukrainischen und internationalen Nichtregierungs- und Regierungsexperten können nützlich sein, um Optionen und Wege für eine Kriegsbeendigung auszuloten. Ein Waffenstillstand hätte nicht zur Folge, dass Putins Griff nach ukrainischem Territorium legitimiert und eingefroren wird. Er könnte vielmehr der Ausgangspunkt für ein intensives diplomatisches Ringen um territoriale Lösungen sein. Nur sehr wenige Staaten in der Welt würden die russische Annexion von Teilen des ukrainischen Territoriums anerkennen.

Der Weg zu Verhandlungen

Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen bedürfen einer intensiven und langwierigen Sondierung und Vorbereitung. Für die Ukraine wäre dieser Weg zu Verhandlungen vermutlich mit innenpolitischen Dynamiken, Zerreißproben und Schuldzuweisungen verbunden. Wenn dennoch ein Dialogprozess zustande kommt, muss die Beendigung des furchtbaren Gemetzels mit Hunderttausenden Opfern an den Fronten und Zehntausenden zivilen Opfern durch die russischen Luftangriffe zunächst im Vordergrund aller Bemühungen stehen. Einzelheiten und Modalitäten von Vereinbarungen zwischen der Ukraine und Russland sollten beiden Seiten und internationalen Vermittlern in stiller Diplomatie überlassen bleiben.

Sicherlich würde der russische Generalstab einen Waffenstillstand nutzen, um seine Truppen zu regenerieren und an der Frontlinie oder hinter einer Pufferzone zu verstärken. Dies würden gleichermaßen die ukrainischen Streitkräfte in Anspruch nehmen. Der ukrainische Generalstab könnte ohne ständigen Beschuss seine Verbände regenerieren, umgruppieren und die Verteidigungsstellungen ungehindert verstärken. Die westliche Unterstützung der Ukraine unter anderem mit finanziellen Mitteln, Rüstungsmaterial, Aufklärung und Ausbildung muss nachhaltig fortgesetzt werden. Rüstungskooperationen westlicher Konzerne mit ukrainischen Rüstungsunternehmen sollten intensiviert und verstetigt werden.

Territoriale Lösungen sind nur in langjährigen diplomatischen Verhandlungen denkbar. Vermutlich wird der Status der Ukraine innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur (Neutralität versus Nato-Mitgliedschaft) bei späteren Friedensverhandlungen eine zentrale Rolle spielen, wie schon bei dem Istanbuler (ad referendum) Verhandlungsergebnis im März 2022. Damit wird deutlich, dass die Art und Weise der Beendigung dieses furchtbaren Kriegs im Zusammenhang mit dem Modus Vivendi der künftigen Koexistenz zwischen der Nato und Russland gestaltet werden muss. Es liegt im vitalen und existenziellen deutschen und europäischen Sicherheitsinteresse, dass der mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgebrochene tiefe Kalte Krieg nicht in einen heißen Konflikt umschlägt. Die Gefahr, dass dies eintritt, ist heute größer als im Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts nach der Kuba-Krise 1962.


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