Von Marcel Leubecher Politikredakteur
Veröffentlicht am 16.06.2016
Es ist eine der bisher umfassendsten Befragungen türkischstämmiger Einwanderer über Integration und Religiosität, die das Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster nun vorgelegt hat. Das Ergebnis der Studie "Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland" gibt Anlass zur Hoffnung wie zu großer Sorge. Die wichtigsten Befunde der Studie zur größten Migrantengruppe in Deutschland:
Islamisch-fundamentalistische Einstellungen sind unter Einwanderern aus der Türkei weit verbreitet. Der Aussage "Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben", stimmen laut der Emnid-Umfrage 32 Prozent der Befragten "stark" oder "eher" zu. Auch wenn vorausgesetzt werden kann, dass vielen Befragten nähere Kenntnisse der soziokulturellen Bedingungen des siebten Jahrhunderts fehlen: Ein Drittel der türkischen Migranten hegt demnach eine Sehnsucht nach einer archaisch islamisch geprägten Gesellschaft.
Der Aussage "Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe" stimmen sogar 47 Prozent der Befragten zu. Jeder Zweite bejaht "stark" oder "eher" die Einstellung "Es gibt nur eine wahre Religion". 36 Prozent sind darüber hinaus überzeugt, dass nur der Islam in der Lage ist, die Probleme unserer Zeit zu lösen. In der Begriffsverwendung der Forscher haben jene Befragte, die allen dieser vier Aussagen zustimmen, ein "umfassendes und verfestigtes islamisch-fundamentalistisches Weltbild". Ihr Anteil liegt bei 13 Prozent.
Allerdings widersprechen die Studienergebnisse der oft geäußerten These, dass die dritte Generation fundamentalistischer sei als die erste. Das Forscherteam unter Leitung des Religionssoziologen Detlef Pollack stellt beachtliche Unterschiede fest zwischen der ersten Generation - so definiert die Studie als Erwachsene Eingewanderte - und der zweiten und dritten Generation, also jenen, die in Deutschland geboren wurden oder als Kind ins Land kamen.
Der Anteil der türkischstämmigen Einwanderer, die der Aussage "Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben" zustimmen, liegt in der ersten Generation bei 36, in der zweiten und dritten hingegen immerhin nur bei 27 Prozent. Der Aussage "Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe" stimmen 57 Prozent der Angehörigen der ersten Generation und 36 Prozent der Angehörigen der zweiten und dritten Generation zu. Gesonderte Ergebnisse für jeweils die zweite und dritte Generation liefert die Studie nicht.
Eine Abkehr von fundamentalistischen Grundhaltungen hängt den Wissenschaftlern zufolge entscheidend von der weiteren Integration ab. Als wichtigste Einflussfaktoren "haben sich häufige Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft, gute Kenntnisse der deutschen Sprache und die Einbindung in den Arbeitsmarkt herauskristallisiert, während sich Gefühle mangelnder Anerkennung und ethnisch-kulturelle Segregation als eher hinderlich erweisen", schreiben sie.
Dieses Gefühl der mangelnden Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft, das sich bei ethnischen Minderheiten in vielen Ländern feststellen lässt, ist auch in der größten Migrantengruppe in Deutschland weit verbreitet. Gut die Hälfte der Zuwanderer aus der Türkei und ihrer Nachkommen fühlt sich als Bürger zweiter Klasse - egal, wie sehr sie sich anstrengen, dazuzugehören.
Dennoch fühlen sich 90 Prozent der Befragten in ihrer neuen Heimat insgesamt wohl. "Das Bild von der persönlichen Lebenssituation der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen ist positiver, als man es angesichts der vorherrschenden Diskussionslage zur Integration erwarten würde", stellt Studienleiter Pollack fest.
Auch Gefühle der Benachteiligung sind unter den Türkeistämmigen nicht weiter verbreitet als in der Bevölkerung insgesamt. Etwa die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass sie im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, gerecht gesellschaftlich beteiligt werden.
Den scheinbaren Widerspruch zwischen hohem Wohlbefinden und dem Gefühl der Zweitklassigkeit erklärt Pollack so: "Offenbar liegen die Integrationsprobleme stark auf der Ebene der Wahrnehmung und Anerkennung. So wichtig es ist, eine Wohnung und Arbeit zu haben, so wichtig ist es, dass die Bevölkerung den Zugewanderten mit Wertschätzung begegnet."
Der Mangel an Anerkennung steht in Zusammenhang mit einer teilweise vehementen Verteidigung des Islam, wie der Studienleiter sagt. So schreiben die rund drei Millionen Türkischstämmigen dem Islam vor allem positive Eigenschaften wie Solidarität, Toleranz und Friedfertigkeit zu.
83 Prozent der Zuwanderer und ihrer Nachkommen erklären, es mache sie wütend, wenn nach einem Terroranschlag als Erstes Muslime verdächtigt werden. Drei Viertel plädieren für ein Verbot von Büchern und Filmen, die die Gefühle tief religiöser Menschen verletzen. Zwei Drittel der Befragten denken, der Islam passe durchaus in die westliche Welt. Im Kontrast dazu meinen 73 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland das Gegenteil. Für Pollack handelt es sich beim Islam "aus Sicht der muslimischen Minderheit um eine angegriffene Religion, die vor Verletzungen, Vorurteilen und Verdächtigungen zu schützen ist".
Ein beachtlicher Anteil der Befragten hält dafür sogar die Anwendung von Gewalt für geeignet. Der Aussage "Die Bedrohung des Islam durch die westliche Welt rechtfertigt, dass Muslime sich mit Gewalt verteidigen", stimmt jeder fünfte Befragte stark oder eher zu. Doch: Die gewaltsame Verbreitung und Durchsetzung des Islam halten nur etwa sieben Prozent für gerechtfertigt.
Soziologe Pollack rät: "Die deutsche Mehrheit sollte mehr Verständnis für die spannungsreiche Lage der Türkeistämmigen - zwischen Herkunftsprägung und Anpassung - aufbringen." Sie solle differenziert wahrnehmen, dass die meisten Zugewanderten nicht fundamentalistisch eingestellt seien. Die Migranten sollten sich hingegen kritisch mit fundamentalistischen Tendenzen in den eigenen Reihen auseinandersetzen.
Die Studie stellt durchaus fest, dass die zweite und dritte Generation im Vergleich zur ersten Generation besser integriert ist: So hat sich der Anteil der türkischen Migranten ohne Schulabschluss von 40 in der ersten Generation auf 13 Prozent bei den jüngeren Migranten mehr als halbiert und der Anteil derjenigen mit - selbst bekundeten - zumindest guten Deutschkenntnissen von 47 auf 94 Prozent verdoppelt. Die Jüngeren haben folglich auch weit mehr Kontakt zu Menschen deutscher Herkunft.
Bei der Frage nach der kulturellen Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft ergibt sich freilich ein anderes Bild: 72 Prozent der älteren Generation halten diese für notwendig, allerdings nur 52 Prozent der jüngeren. 86 Prozent der Mitglieder der zweiten und dritten Generation denken, man solle selbstbewusst zur eigenen Herkunft stehen, aber nur 67 Prozent der ersten.
"Obwohl die in Deutschland Geborenen oder als Kind Eingewanderten besser integriert sind, schlägt das Pendel bei ihnen mehr in Richtung Selbstbehauptung aus als bei denen, die als Erwachsene kamen", erklärt der Forscher. Das lasse sich als Abgrenzung der Jüngeren von den Älteren erklären sowie mit höheren Ansprüchen an Bildung und Lebensgestaltung.
Bei Letzterem spielt die muslimische Identität offenbar eine große Rolle. Auch wenn die jüngeren türkischen Migranten weniger in die Moschee gehen und seltener beten als ihre Vorfahren, bezeichnen sie sich häufiger als religiös (Frauen: 74 gegenüber 63 Prozent; Männer: 70 gegenüber 61 Prozent). Das zeigt sich aber nicht bei der Frage nach strengen Vorgaben wie das Tragen des Kopftuchs: In der ersten Generation halten dies 40 Prozent für notwendig, in den Folgegenertionen nicht einmal mehr 30 Prozent. Auch der Anteil der muslimischen Frauen, die tatsächlich ein Kopftuch tragen, geht zurück: von 41 auf 21 Prozent.
"Folglich kann die Popularität fundamentalistischer Haltungen künftig weiter sinken, sofern die Integration der jüngeren Zuwanderergeneration weiter gut verläuft", heißt es dazu. Als wichtigste Einflussfaktoren gegen fundamentalistische Meinungen kristallisierten sich in der Studie häufige Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft heraus, gute Deutschkenntnisse und die Einbindung in den Arbeitsmarkt. Hinderlich sind demnach Kontakte vorwiegend innerhalb der muslimischen Gemeinschaft sowie das verbreitete Gefühl mangelnder Anerkennung.
Die Einwanderer aus der Türkei schätzen zumeist ihre Mitbürger. "Menschen deutscher Herkunft", bezeichnen 86 Prozent der Befragten als "positiv". Ähnlich positiv - von vier Fünfteln - werden die Angehörigen der größten Religion, die Christen, beurteilt. Die Haltung gegenüber Atheisten ist skeptischer. Der Anteil, der dieser Gruppierung positiv gegenübersteht (49 Prozent), überschreitet den Anteil der negativ eingestellten (27 Prozent) dennoch deutlich.
Auffallend ist, dass sich eine bemerkenswerte Zahl von Befragten keine Meinung bildet oder diese nicht kundtun möchte (24 Prozent); dieses Phänomen zeigt sich besonders stark bei der Frage nach der Haltung zu Juden, auf die 30 Prozent keine Antwort geben. Der Anteil derer mit offen negativer Einstellung liegt bei 21 Prozent. Die Verfasser der Studie stellen dazu fest: "Eine zumindest latente Abwehrhaltung gegenüber den beiden zuletzt genannten Gruppen, die ein gewisses soziales Konfliktpotenzial bergen könnte, ist jedoch kaum zu übersehen."
Für die repräsentative Erhebung befragte das Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid zwischen November 2015 und Februar 2016 für das Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster rund 1200 Zuwanderer aus der Türkei und ihre Nachkommen ab 16 Jahren - teils in deutscher, teils in türkischer Sprache.
Die Befragten der ersten Generation leben im Schnitt seit 31 Jahren in Deutschland. 40 Prozent der Befragten wurden in Deutschland geboren. 28 Prozent haben die deutsche Staatsbürgerschaft, 58 Prozent die türkische. Acht Prozent haben einen deutschen und einen türkischen Pass, fünf Prozent einen türkischen und einen weiteren.