Veröffentlicht am 15.06.2022 | Lesedauer: 6 Minuten
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Hubertus Heil (SPD) ist sprachlos. Erstens hat er beim Tischfußball gerade ein Tor kassiert. Die kleinen Jungs im improvisierten "Jugend-Club" sind wirklich gut. Zweitens ist da die Sprachbarriere beim Besuch im Flüchtlingsheim in Berlin-Siemensstadt. "Kann jemand übersetzen, bitte", ruft der Bundesarbeitsminister beim Rundgang durch das Containerdorf, in dem 250 Menschen aus der Ukraine unterbracht sind. Neben Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ist auch Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) dabei. Die spricht fließend Russisch und dolmetscht spontan.
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Das Politiker-Trio will sich nach etwas mehr als drei Monaten nach Ankunft der ersten Ukraine-Flüchtlinge einen Überblick über deren Situation verschaffen: wo es hakt, wo die Chancen für die Menschen liegen. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hatte in dieser Woche erklärt, viele seiner Landsleute hätten "keine Lust, hierzubleiben"; sie fühlten sich in Deutschland nicht willkommen. Ein harter Vorwurf.
Quelle: WELT
Lyubov Azime erfüllt damit alles, was man braucht, um schnell "in den deutschen Arbeitsmarkt integriert" zu werden, wie es im Bürokratendeutsch heißt. Und genau das ist das Ziel von Hubertus Heil: möglichst schnell, möglichst viele der Ukrainer hier in Lohn und Brot zu bringen.
Wer arbeitet, baut Bindungen zu seinem neuen Umfeld auf und kann selbst für seinen Unterhalt aufkommen. Außerdem sind Arbeitskräfte aus der Ukraine gefragt, in einem Land, in dem Saisonarbeiter genau so fehlen wie Fachkräfte. Weitaus stärker als bei der Flüchtlingszuwanderung 2015 sind in der Politik auch Hoffnungen mit den Kriegsflüchtlingen verbunden. Aber es ist unwahrscheinlich, dass die, was den Arbeitsmarkt angeht, erfüllt werden.
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Nach den Auswertungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind bis zum 7. Juni insgesamt 850.290 Menschen im Ausländerzentralregister erfasst worden, die im Zusammenhang mit dem russischen Überfall seit dem 24. Februar nach Deutschland gekommen sind. Wie viele Ukrainer wirklich im Land sind, ist schwer zu sagen. Eine große Zahl lässt sich nicht registrieren und kommt privat unter, bei der Familie oder Freunden. Viele sind inzwischen in andere Länder weitergereist, zurück in die Heimat oder reisen von dort und Deutschland hin und her.
Pendel-Migration nennen das Fachleute. Auch einen bundesweiten Überblick dazu, wie viele der Ukrainer bereits einen Arbeitsplatz gefunden haben, gibt es nicht. In Berlin, der Stadt mit den meisten Kriegsflüchtlingen in Deutschland, sind es jedenfalls wenige.
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Wolfgang Langkau hat sein ganzes Leben in Siemensstadt verbracht; jetzt läuft er durch das Containerdorf auf dem Gelände, auf dem eigentlich eine Schule gebaut werden sollte, und hilft, wo er kann. Sportveranstaltungen organisieren, Spenden verteilen. "Es sind überwiegend Frauen hier, die meisten arbeiten nicht, sie müssen ja ihre Kinder betreuen", sagt der 73-Jährige. "Es herrscht eine gewisse Lethargie. Ein Mal die Woche wird Sprachunterricht angeboten, aber da geht kaum einer hin."
Wozu auch, die meisten wollten, so schnell es geht, wieder nach Hause, meint Langkau. Allein die Verständigung sei ein Problem:
80 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge sind Frauen, viele mit mehreren Kindern. Damit die einen Sprachkurs machen oder arbeiten könnten, müsste der Nachwuchs betreut werden. Aber es gibt nicht genug Plätze in den Schulen oder Kitas. Beispiel Berlin: Dort wurden bislang 300.000 sogenannte Ankünfte aus der Ukraine registriert seit Russlands Invasion. 68.000 Menschen haben einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel gestellt, wollen also länger bleiben. Schulplätze wurden bislang gerade mal für 4200 Kinder gefunden.
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"Die Sicherstellung der Kinderbetreuung spielt eine zentrale Rolle. Das ist in vielen Landkreisen problematisch, weil zu wenige Plätze zur Verfügung stehen", fasst der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, die bundesweite Situation gegenüber WELT zusammen. "Das ist aber keine Problematik, die uns der Ukraine-Krieg vor Augen führt, sondern ein Dauerthema."
Viele Ukrainerinnen wollen allerdings die Kinder nicht in deutschen Schulen schicken, setzen lieber auf Online-Unterricht von Schulen in der Heimat - es soll ja ohnehin möglichst bald zurückgehen. Die Hinweise darauf, dass sich inzwischen schon jetzt sehr viele Ukrainerinnen trotz Verschärfung der Kämpfe wieder auf den Weg in die Heimat machen, mehren sich.
So teilt Flixbus - das bekannteste unter den vielen Transportunternehmen, die täglich Fahrten nach Kiew und andere ukrainische Orte anbieten - WELT mit: "Die Nachfrage nach Fahrten in die Ukraine nimmt aktuell kontinuierlich zu. Während etwa im März doppelt so viele Leute von der Ukraine nach Deutschland reisten als umgekehrt, hat sich das Verhältnis seit Mai umgedreht." Die am meisten nachgefragten Städte seien Lemberg und Kiew. Flixbus fahre aktuell aus mehr als 50 deutschen Städten in 15 ukrainische Städte. "Etwa drei Viertel der Reisenden fahren über Polen." Wer alles daran setzt, möglichst schnell in die Heimat zurückzukehren, wird sich kaum um Sprachunterricht, Schul- oder Kitaplätze oder einen Arbeitsplatz kümmern.
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"Der Wunsch nach einer Beschäftigung nimmt bei Geflüchteten aus der Ukraine zuletzt leicht zu. Die Arbeitsaufnahme findet dabei manchmal auch parallel zum Sprachkurs statt", sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindetags, Achim Drecks. Die häufig von Unternehmensverbänden und Politikern geäußerte Hoffnung, dass zuwandernde Schutzsuchende bald nach ihrer Ankunft als Fachkräfte eingesetzt werden können, wird allerdings regelmäßig durch die Empirie enttäuscht. Beispielsweise untersuchte das Institut für Arbeitsmarktforschung der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2020 die Beschäftigungsintegration jener Hunderttausenden Schutzsuchenden, die von Jahresanfang 2013 bis Ende 2016 zugezogen waren.
Die gemeinsam mit dem BAMF durchgeführte Befragung ergab, dass zwei Jahre nach Einreise 17 Prozent erwerbstätig waren, vier Jahre danach 42 Prozent und fünf Jahre nach Einreise 49 Prozent der zwischen 18- und 64-jährigen Zugewanderten erwerbstätig waren. Bei den Männern waren es 57 Prozent und bei Frauen 29 Prozent.
"Mittelfristig sind die Chancen gut, dass ein Großteil der Flüchtlinge aus der Ukraine hierzulande einen Arbeitsplatz findet, denn das Bildungsniveau der Menschen ist selbst an deutschen Maßstäben gemessen überdurchschnittlich hoch", sagt Herbert Brücker, Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung.
Lyubov Azime hat vorerst keine Pläne, zurückzureisen. "Das ist ein schlimmer Krieg, er wird nicht so schnell zu Ende sein."
Quelle: welt.de