Wie bekommen wir Corona in den Griff?

Internes Papier aus Innenministerium empfahl, den Deutschen Corona-Angst zu machen Christophe Gateau/dpa Menschen genießen im Berliner Mauerpark das gute Wetter
FOCUS-Online-Redakteur Florian Reiter

Sonntag, 05.04.2020, 14:05

Zwölftausend Tote - im günstigsten Fall: Ein internes Papier aus dem Bundesinnenministerium zur Eindämmung der Corona-Krise sorgte Ende März für Wirbel. Darin sprechen sich die Autoren unter anderem für flächendeckende Tests der Bevölkerung nach dem Vorbild Südkoreas aus. Doch erst jetzt kommt heraus: Das Papier empfiehlt auch drastische Maßnahmen zur Krisenkommunikation.

Es sind schockierende Zahlen, die der interne Bericht "Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen" durchspielt: 70 Prozent der Deutschen könnten sich mit dem Coronavirus infizieren, mehr als eine Million Bürger könnten sterben, wenn eine "massive Überlastung des Gesundheitssystems" nicht durch entschlossenes Eingreifen vermieden wird. Das Geheimpapier aus dem Bundesinnenministerium, das vom 22. März datiert, sorgte aber auch aus einem anderen Grund für Aufmerksamkeit; weil es sich für flächendeckende Massentests nach dem Vorbild Südkoreas aussprach. "Ein der Lage angemessenes und schrittweises Eingreifen in wirtschaftliche und gesellschaftliche Abläufe wird dadurch erst ermöglicht (...)", heißt es in dem Text.

Bereits Ende März geisterte das Papier mit seinen erschreckenden Zahlen und seinen weitreichenden Handlungsempfehlungen erstmals durch die Medien, der "Spiegel", die "Süddeutsche Zeitung" sowie WDR und NDR hatten unter anderem darüber berichtet. Kritik hatte der Bericht damals vor allem deshalb auf sich gezogen, weil er inhaltlich teilweise Bezug auf einen Blogbeitrag im Internet nahm, dessen Inhalt von Experten nicht geteilt wird. Ministeriumssprecher Steve Alter erklärte Ende März, das Papier solle darstellen, wie sich die aktuelle Situation auf die innere Sicherheit auswirken könnte, "welche unterschiedlichen Verläufe sind hier denkbar".

"Das Verschweigen des Worst Case ist keine Option"

Das Innenministerium hatte sich geweigert, das Papier auf Grundlage des Presserechts und des Informationsfreiheitsgesetzes für andere Medien verfügbar zu machen: Das Dokument sei "Verschlusssache" und "nur für den Dienstgebrauch". Jetzt hat das gemeinnützige Portal "Frag den Staat" das vollständige, 17 Seiten lange Papier veröffentlicht. Und es stellt sich heraus: Das Papier befasste sich nicht nur mit der Frage, wie die Pandemie am besten einzudämmen ist. Die Autoren beschäftigten sich auch mit Kommunikationsstrategien. Wie vermittle ich den Menschen den Ernst der Lage? Und wie bewege ich sie zum Mitmachen, wenn es um Ausgangsbeschränkungen geht, um Restaurantschließungen und ums Home Office?

Konkret sehen die Autoren des Textes zwei Gefahren: Einerseits einen Vertrauensverlust in die Institutionen, dem man durch größtmögliche Transparenz entgegenwirken müsse. Als Motto sei geboten: "Es kommt etwas sehr Bedrohliches auf uns zu, wir haben die Gefahr aber erkannt und handeln entschieden und überlegt", heißt es in dem Papier. Und: "Um die gesellschaftlichen Durchhaltekräfte zu mobilisieren, ist das Verschweigen des Worst Case keine Option." Wer die Gefahr abwenden will, müsse sie kennen.

Die Gedanken der "Vielen"

Dass diese Gefahr in der Bevölkerung aber nicht ernstgenommen werden könnte - das ist die zweite Sorge der Autoren. Eine Fixierung auf die prozentual eher niedrige Sterblichkeitsrate könne dazu führen, dass der Ernst der Lage unterschätzt wird. An einer Stelle im Papier heißt es gar, "viele" dächten sich dann "unbewusst und uneingestanden: 'Naja, so werden wir die Alten los, die unsere Wirtschaft nach unten ziehen, wir sind sowieso schon zu viele auf der Erde, und mit ein bisschen Glück erbe ich so schon ein bisschen früher'." Ein Beleg für diese These findet sich in dem Bericht nicht.

Um der Bevölkerung den Ernst der Lage klarzumachen, empfehlen die Autoren drastische Maßnahmen. "Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden", schreiben die Verfasser, und nennen gleich drei konkrete Beispielszenarien.

"Das Ersticken ist für jeden Menschen eine Urangst"
  1. Es würden viele Schwerkranke von ihren Angehörigen "ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen (sic) ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls."
  2. empfiehlt das Papier sogar, Kindern Angst zu machen. "Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z.B. bei den Nachbarskindern", heißt es in dem Text. "Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, weil sie z.B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann."
  3. schlagen die Autoren vor, an mögliche Langzeitschäden zu erinnern. "Auch wenn wir bisher nur Berichte über einzelne Fälle haben, zeichnen sie doch ein alarmierendes Bild", heißt es in dem Bericht. "Selbst anscheinend Geheilte nach einem milden Verlauf können anscheinend jederzeit Rückfälle erleben, die dann ganz plötzlich tödlich enden, durch Herzinfarkt oder Lungenversagen, weil das Virus unbemerkt den Weg in die Lunge oder das Herz gefunden hat. Dies mögen Einzelfälle sein, werden aber ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren."
Die "1919 + 1929"-Formel

Es sollte außerdem "historisch argumentiert werden", schlagen die Autoren vor, nach der Formel: "2019 = 1919 + 1929". Im Jahr 1919 verbreitete sich die Spanische Grippe aus den USA in die ganze Welt und tötete je nach Zählung zwischen 25 und 50 Millionen Menschen. Das Jahr 1929 ist wiederum das Jahr der berühmten Weltwirtschaftskrise, die unter anderem zum Aufstieg des Faschismus in Deutschland beigetragen hatte. Die Botschaft der Autoren: Die Corona-Pandemie wird so schlimm wie Spanische Grippe und Weltwirtschaftskrise zusammen, wenn es nicht gelingt, sie einzudämmen. Diese Formel werde "jedem einleuchten", schreiben die Verfasser.

Ob tatsächliche Experten für Kommunikation an dem Papier beteiligt waren, ist unklar. Das Innenministerium hat sich zur Identität der Urheber bislang nicht geäußert. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet, insgesamt habe eine "Gruppe von zehn Fachleuten" an dem Papier gearbeitet. Namentlich erwähnt werden in dem Bericht aber nur vier Autoren - allesamt Ökonomen.

Wie viel Beachtung das Papier in Regierungszirkeln fand, ist ebenfalls nicht bekannt. Innenminister Horst Seehofer (CSU) sprach kürzlich in der "Bild"-Zeitung davon, es könne "Millionen Tote" geben. Sonst überlässt Seehofer in der Öffentlichkeit allerdings Gesundheitsminister Jens Spahn und Bundeskanzlerin Angela Merkel (beide CDU) das Feld. Medienberichten zufolge sollen weder Merkel noch Spahn von dem Papier aus dem Innenministerium sonderlich begeistert gewesen sein. Merkel bevorzugt ohnehin einen anderen Ton: In ihren Ansprachen an die Nation appelliert die Bundeskanzlerin vor allem an die Verantwortung der Bürger.


Quelle: focus.de vom 05.04.2020


Anarchie nach "Kernschmelze"

Geheimpapier des Innenministeriums skizziert den Corona-Kollaps der Gesellschaft

dpa/Jörg Carstensen/dpabild Ein Kommunikationsteam der Polizei geht Streife im Mauerpark.
FOCUS-Online-Reporter Axel Spilcker

Sonntag, 05.04.2020, 14:47

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), gerade aus dem quarantänebedingten Home Office entlassen, dämpfte am vergangenen Freitag die Hoffnungen auf einen frühzeitigen Exit aus dem Krisenmodus im Zuge der Coronavirus-Pandemie. Zwar verflache die Infizierten-Kurve. Doch es sei zu früh, einen Trend zu erkennen. Das Bundesinnenministerium (BMI) hat indes in einem aktuellen Strategiepapier ein baldiges Ende der Ausgangsbeschränkungen angemahnt - warnt aber gleichzeitig vor einem düsteren Szenario.

Geht es nach Horst Seehofer (CSU) und seinem Staatssekretär Markus Kerber, müsse man nach den Osterferien in eine zweite Phase eintreten, etwa Schulen und Kindergärten wieder öffnen. Und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sukzessive zurückzunehmen, damit "die Konsumbereiche schnell wieder reaktiviert werden".

In etlichen "unternehmensnahen Dienstleistungsbereichen" könnte die Geschäftstätigkeit wieder anlaufen, zum Beispiel bei Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern bis hin zum Autoreparaturservice. "Nur mit einem absehbaren Ende der Ausgangsbeschränkungen kann eine Rückkehr zum bisherigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet sein", heißt es in dem Papier, das auf der Analyse des Robert-Koch-Instituts und etlicher weiterer Sachverständiger beruht. Das Papier liegt FOCUS Online vor, auch das gemeinnützige Portal "Frag den Staat" hat es veröffentlicht.

Sehnsucht nach Südkorea

Ziel ist es demnach, die Verdopplungsziffer der Infizierten auszudehnen, sprich: Die Steigerungsraten entsprechend zu verlangsamen. Derzeit sind es neun Tage, ehe sich die Rate verdoppelt. Erst wenn sich die Rate auf zwei Wochen verlangsamt, könnten die Verantwortlichen vorläufige Entwarnung geben.

In ihrer Strategie orientieren sich die BMI-Autoren an dem südkoreanischen Modell. Dort sei durch ein umfangreiches Testsystem die Dunkelziffer äußerst gering. Demnach könne der frühe Exit aus dem Krisenmodus hierzulande nur gelingen, wenn die Risikopatienten schnell erkannt und isoliert werden, schreiben die Autoren. Ferner müssten die Länder die Zahl der Viren-Tests bundesweit auf bis zu 200.000 täglich hochfahren - macht 1,4 Millionen pro Woche.

Denn sollte es nicht gelingen, die Infektionsrate in den nächsten Monaten zurückzufahren, droht wirtschaftlich, sozial und gesundheitlich der Kollaps. Dabei spielten die Virus-Analytiker aus dem BMI folgende Szenarien durch.

"Massive Überlastung"

Worst Case: Derzeit speisen 975 Kliniken ihre Daten zu den Intensivbettenkapazitäten bei der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem RKI und der Deutschen Krankenhausgesellschaft in eine Datenbank ein. Nach aktuellem Stand existieren in diesen 975 Kliniken rund 20.000 Intensivbetten. Rund 8500 davon seien im Moment frei und können sofort zur Behandlung von Corona-Kranken genutzt werden. Betrachtet man alle Kliniken, nicht nur diejenigen, die bei der DIVI ihre Daten angeben, verfügt Deutschland nach Angaben von Gesundheitsminister Spahn über 40.000 Intensivbetten.

Im Krisenmodus, so Spahn, könne man die Zahl der freien Betten von 8500 auf 17.500 erhöhen. Diese Ziffer reicht nach BMI-Expertise bei weitem nicht aus. Auch wenn die Quote auf 24.000 freie Intensivbetten mit Beatmungsgeräten hochklettert, müsse mit einer "massiven Überlastung des Gesundheitssystems" gerechnet werden - und zwar dann, wenn die Verdoppelungszahl der Virus-Empfänger bis Ende April im Neun-Tage-Rythmus stagniere. Im schlimmsten Fall müssten 80 Prozent der "intensivpflichtigen Patienten von den Krankenhäusern abgewiesen werden", konstatiert das BMI. In dem Fall rechne man mit 1,2 Millionen Toten.

Die Angst vor der Anarchie

Dehnungs-Fall: Sollte es gelingen, das Ansteckungtempo bis Mitte April abzubremsen, könnten den Analysen zufolge nur noch 15 Prozent Intensiv-Patienten nicht klinisch behandelt werden. Nur jeder fünfte Bundesbürger würde sich infizieren, die Todesrate schätzt das BMI auf 220.000. Unter diesen Voraussetzungen würde der Ausnahmezustand mindestens sieben Monate andauern.

"Hammer and Dance"-Szenario: Testen und Isolieren, so nennt sich der von den BMI-Experten favorisierte Weg. Demzufolge dämmt eine intensive Viren-Kontrolle die Pandemie ein. Dann würden sich vermutlich eine Million Deutsche mit dem Virus infizieren, etwa 12.000 von ihnen kämen ums Leben. Allerdings sei weiterhin mit einer Ansteckungsgefahr zu rechnen.

Ein denkbar düsteres Bild zeichnen die BMI-Experten für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, sollte man nicht erfolgreich die Pandemie bekämpfen können. Aus ihrer Sicht droht eine "Kernschmelze" für das gesamte System, das durch die Pandemie in Frage gestellt werde. "Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert", heißt es in dem Bericht.

Hoffnung auf die Osterferien

Darüber hinaus sagt das Papier weitaus schlimmere Folgen für die hiesige Wirtschaft voraus, schlimmer als in der Finanzkrise 2009. Und auch hier gingen die BMI-Analysten mehrere Szenarien durch:

Schnelle Kontrolle: Greifen die Kontaktverbote, so könnten die Zahlen bis zum Ende der Osterferien spürbar herunter gehen. Nach Ansicht des BMI Grund genug, um Schulen und Kindergärten wieder zu öffnen, und die Eltern zumindest in Teilen wieder aus dem Home-Office an ihre Arbeitsstellen zu bringen. Produzierende Unternehmen hätten noch mindestens einen Monat lang starke Probleme, den Betrieb wegen unterbrochener Lieferketten hochzufahren. Zugleich bleiben etwa Verbote für Großversammlungen sowie die intensiven Virus-Testreihen bestehen.

Den Prognosen zufolge braucht es zwei Monate, damit die Firmen erneut störungsfrei arbeiten können. Drei weitere Monate sind nötig, um die verlorene Wirtschaftsleistung auszugleichen. In diesem günstigsten Fall sinkt das Bruttosozialprodukt um vier Prozent, bei der Industrie schlägt ein Minus von neun Prozent zu Buche. Allein in diesem Falle kämen auf den Staatshaushalt Kosten in Höhe von 80 Milliarden Euro zu.

Das Szenario der zweiten Welle

Rückkehr der Virus-Krise: Im zweiten Fall spielt die BMI-Analyse die wirtschaftlichen Konsequenzen einer zweiten Corona-Welle im kommenden Winter durch. Dasselbe Szenario mit Ausgangsbeschränkungen, Besuchsverboten in Altenheimen und Kurzabeitergeld für Millionen von Beschäftigten würde sich wiederholen. Hier käme ein elfprozentiges Minus für die Wirtschaft im Jahr 2020 zum Tragen, die Industrie müsste wohl Umsatzverluste von 19 Prozent verschmerzen - weitaus schlimmere Folgen, als der Crash der weltweiten Finanzbranche vor elf Jahren bereitet hatte.

Langes Leiden: Sollten die Kontaktverbote und Ausgangssperren bundesweit bis zum Beginn der Sommerferien Mitte Juli andauern, seien tiefere Einschnitte zu befürchten.

"Vermutlich wird eher die Behandlung der Erkrankten infrage gestellt"

Abgrund: Ein "Lockdown" bis zum Ende des Jahres käme nach Einschätzung des BMI einem "wirtschaftlichen Zusammenbruch" gleich, dessen "gesellschaftliche und politische Konsequenzen kaum vorstellbar sind". Das BIP stürze um 32 Prozent ab, die Industrie büße knapp die Hälfte des Umsatzes ein. Für diesen Fall fürchtet das Innenministerium massive Proteste gegen die Maßnahmen der Regierenden: "Vermutlich wird eher die Behandlung der Erkrankten infrage gestellt", als dass man einen dauerhaften Stillstand des Landes in Kauf nehmen würde.

Fazit: Das Innenministerium befürwortet den Kurs, die Massentests auszuweiten und folglich die Risikopatienten besser zu identifizieren und zu isolieren. Dabei fordern sie mehr mobile Teststationen sowie das umstrittene "Big Data" - die digitale Überwachung mittels Gesundheitscode-Software auf dem Handy, sprich ein Virus-Tracking. Sollte dieser Weg zum Erfolg führen - erste Daten scheinen dies zu bestätigen - dann wäre viel gewonnen. Falls nicht, wären die Folgen unabsehbar.

Jeder Fünfte würde Mitbürger bei Verstoß gegen Kontaktverbot anzeigen

FOCUS Online/Wochit Jeder Fünfte würde Mitbürger bei Verstoß gegen Kontaktverbot anzeigen


Quelle: gekürzt aus focus.de vom 05.04.2020