Niall Ferguson "In Europa glaubt man, dass Trump der Schlimmste ist. Aber Biden ist noch viel schlimmer"

Stand: 26.07.2022 | Lesedauer: 7 Minuten

Von Maciej Stasinski

Der weltbekannte Historiker Niall Ferguson sagt im Interview, warum er glaubt, dass die USA einen riesigen taktischen Fehler in der Ukraine begangen haben. Und warum aus seiner Sicht Russland nur stärker werden wird.

Niall Ferguson Historiker und Autor Niall Ferguson
Quelle: Getty Images

Der schottische Historiker Niall Ferguson ist Autor zahlreicher Bestseller. Der 58-Jährige lehrte an zahlreichen Elite-Hochschulen, derzeit ist er Professor an der US-Universität Harvard. Ferguson ist Autor zahlreicher Bestseller zu historischen und politischen Themen, zuletzt beschäftigte er sich in "Doom" mit der Frage, warum große Kulturen überleben oder untergehen.

WELT: Herr Ferguson, wo stehen wir nach fünf Monaten des russischen Krieges gegen die Ukraine?

Niall Ferguson: Je länger der Krieg andauert, desto länger dauert er. Das klingt wie eine Tautologie, soll aber heißen: Der Krieg ist umso schwieriger zu beenden, je länger er dauert. Und es wird von Woche zu Woche schwieriger. Leider arbeitet die Zeit zu Putins Gunsten. Auch diese Aussage mag erst einmal seltsam klingen, schließlich verlief die russische Offensive anfangs katastrophal, Russland erlitt schwere Verluste und die Ukraine kämpfte großartig. Aber trotz der russischen Verluste, des Heldentums der Ukrainer und der großen Sympathie für die Ukraine im Westen wird es für die Ukrainer umso schwieriger sein, zu gewinnen, je mehr die Ukraine verwüstet wird. Putin hat Zeit gewonnen, seine Strategie zu ändern, und statt Kiew zu erobern und die gesamte Ukraine zu besetzen, hat er sich auf den Donbass konzentriert. Und die Einnahme des gesamten Donbass und des Südostens der Ukraine durch Russland wird immer wahrscheinlicher. Russland führt jetzt einen Zermürbungskrieg, einen Erschöpfungskrieg. Ohne vorübergehende Waffenstillstände. Das spielt Putin in die Karten.

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WELT: Aber der Westen liefert weiter Waffen, wird das der Ukraine nicht helfen?

Ferguson: Die entscheidende Frage ist die nach der Beständigkeit. Die USA haben der Ukraine bereits 50 Milliarden Dollar an Hilfe gewährt. Werden sie in der zweiten Jahreshälfte weitere 50 geben? Und nächstes Jahr? Putin weiß, dass die westliche Einigkeit zur Verteidigung der Ukraine ein Verfallsdatum hat.

WELT: Und die Sanktionen des Westens schwächen Russland zwar - ein militärischer Riese, aber ein sozialer und wirtschaftlicher Zwerg -, doch treiben es nicht in den Ruin?

Ferguson: Ich habe nie an die Wirksamkeit von Sanktionen geglaubt. Solange Russland Gas und Öl verkaufen kann, wird der Rubel stark bleiben und Russland wird überleben.

WELT: Wird Putin Kiew schnell oder nie erobern?

Ferguson: Wahrscheinlich eher nie.

WELT: Werden die westlichen Sanktionen Putin dazu zwingen, einzusehen, dass er nicht gewinnen kann und sich zurückzuziehen?

Ferguson: Das werden sie nicht.

WELT: Wird der wirtschaftliche und politische Druck des Westens zu einem Palastputsch und dem Sturz Putins führen?

Ferguson: Nein, auch das nicht.

WELT: Werden Rückschläge Putin zur Verzweiflung treiben und zum Einsatz von Atomwaffen?

Ferguson: Wahrscheinlich nicht.

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WELT: Wird China Russland die Unterstützung entziehen, wenn es keinen Frieden schließt?

Ferguson: Nein, sie werden sich nicht zurückziehen und sie werden nicht auf Frieden drängen.

WELT: Wird unsere westliche Kriegsmüdigkeit zunehmen und die Unterstützung für die Ukraine nachlassen?

Ferguson: Ja, das ist bereits der Fall.

WELT: Russland kann nicht verlieren? Nichts wird ihm schaden?

Ferguson: Die Regierung von Joe Biden hat nichts getan, um diesen Krieg frühzeitig zu beenden. Denn sie glaubte, je länger er dauere, desto schlechter für Russland und desto besser für den Westen und die Ukraine. Auch weil Biden dachte, dass dies China von einer Invasion in Taiwan abhalten würde. Meiner Meinung nach war das ein Fehler und dumm. Der Krieg hätte beendet werden müssen, als es Russland schlecht und der Ukraine gut ging.

WELT: Ihre Position hat sich offenbar stark geändert. In einem früheren Interview hatten Sie behauptet, dass Russland zusammenbrechen würde...

Ferguson: Ja, aber das war nach drei Wochen des Krieges. Es war der Moment der größten Schwäche Russlands nach der gescheiterten Offensive auf Kiew, der beste Moment für die Ukraine und auch der beste Moment für den Westen, auf ein Ende des Krieges zu drängen. Aber die USA haben dies nicht getan. Joe Biden hingegen flog nach Warschau, nannte Putin einen Kriegsverbrecher und rief zu seinem Sturz auf. Damals forderte ich jeden auf, der es hören wollte, die Russen und Ukrainer zu Verhandlungen zu bewegen. Jetzt ist es zu spät. Russland wird immer stärker und die Ukraine immer schwächer. Ich war schockiert über die Naivität der Regierung Biden und vieler US-Kommentatoren, die glaubten, die Ukraine könne gewinnen. Wie hätten sie die Russen militärisch aus dem Donbass und der Krim vertreiben sollen?

WELT: Putin blockiert Getreidelieferungen aus der Ukraine. Steigende Preise und Hungersnöte drohen. Wird das die Entschlossenheit des Westens nicht stärken?

Ferguson: Joe Biden hat eine militärische Intervention der USA und der Nato in diesem Krieg ausgeschlossen, und daran wird sich nichts ändern. Die russische Lebensmittelblockade wird im Westen zu Inflation und in Afrika möglicherweise zu Hungersnöten führen. Die Inflation und die drohende Hungersnot werden den Druck nur noch erhöhen. Im Herbst wird die Entschlossenheit des Westens, den Krieg zu unterstützen, nachlassen. Die Aufforderung an die Ukraine, territoriale Zugeständnisse zu machen, und die faktische Teilung des Landes werden beginnen.

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WELT: Wie wäre dieser Krieg verlaufen, wenn Donald Trump in Washington das Sagen gehabt hätte?

Ferguson: Bekannt ist, dass Joe Biden in den vergangenen Jahren die militärische Unterstützung für die Ukraine eingestellt hat. Er hat die Sanktionen gegen die russische Gaspipeline Nord Stream 2 aufgehoben und sich aus Afghanistan zurückgezogen. Und er kündigte an, dass die USA Taiwan verteidigen würden. Das Ausmaß der Inkompetenz seiner Regierung ist erschreckend. Trump hätte nichts von alledem getan. Stattdessen wäre es unter seiner Regentschaft wahrscheinlich zu einem Handelsabkommen mit China gekommen. Joe Biden hat dem Bündnis zwischen den USA und Europa und der Nato weit mehr geschadet als Trump.

WELT: Warum das?

Ferguson: Nur in Europa versteht man das nicht, weil man denkt, dass Trump der Schlimmste ist. Allerdings ist Biden noch viel schlimmer.

WELT: In Europa dürfte solch eine Aussage viele schockieren.

Ferguson: Ich bestreite nicht, dass Trump ein Lügner war und ist oder dass er eine Gefahr für die amerikanische Demokratie war und vielleicht immer noch ist. Aber die Frage ist: Welcher dieser Präsidenten war besser für die Nato? In diesem Punkt machen die Europäer einen großen Fehler.

WELT: Führen Sie das gern etwas genauer aus.

Ferguson: Einer dieser beiden Präsidenten ordnete den Rückzug der Amerikaner aus Afghanistan an, fast ohne die Verbündeten zu konsultieren. Es war nicht Trump. Einer davon verringerte 2021 die Waffenlieferungen an die Ukraine. Nicht Trump. Im vergangenen Jahr wurden die Sanktionen gegen Nord Stream 2 ausgesetzt. Und wieder, es war nicht Trump. Man sagte Putin, dass er im Falle einer Invasion in der Ukraine nur mit Sanktionen rechnen müsse. Es war nicht Trump. Als Trump gewählt wurde, befürchtete jeder, dass er die Nato abschaffen würde. Hat er das getan? Nein. Der Präsident, der sagte, die Nato sei "hirntot", war Emmanuel Macron, nicht Trump. Trump kritisierte Deutschland, weil es nicht genug für die Verteidigung ausgibt und sich zu sehr auf russische Gaslieferungen verlässt. Hatte er Unrecht?

WELT: Aber glauben Sie, Trumps Agieren wäre im Ukraine-Krieg berechenbar gewesen?

Ferguson: Nun ja, am 4. März telefonierte Trump mit dem Golfer John Daly. Da sagt er auf der Tonbandaufnahme: "Alle sagen: ‚Oh Mann, dieser Putin hat Atomwaffen'. Ich meine, sie haben Angst vor ihm. Weißt du, John, dieser Typ war ein Kumpel von mir. Ich hatte eine großartige Beziehung zu ihm. Ich sagte immer zu ihm: ‚Wladimir, wenn du das tust, schlagen wir in Moskau zu. Wir werden Moskau bombardieren. Er glaubte mir vielleicht fünf, vielleicht zehn Prozent. Und das war genug. Zu meiner Zeit hat Putin so etwas nicht getan. Und alle haben davor gewarnt. Und warum hat er das in meinen vier Jahren nicht getan? Weil er wusste, dass er es nicht konnte.' Meiner Meinung nach ist es nicht ausgeschlossen, dass Putin im Falle einer Wiederwahl Trumps nicht in die Ukraine einmarschiert wäre.


Dieser Text stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA). Ihr gehören neben WELT die italienische Zeitung "La Repubblica", "El País" aus Spanien, "Le Figaro" aus Frankreich, "Gazeta Wyborcza" aus Polen, "Le Soir" aus Belgien sowie aus der Schweiz "La Tribune de Genève" und "Tages-Anzeiger" an.


Quelle: welt.de