"Ich habe alles gesehen - von falschen Beschuldigungen bis hin zu schweren Sexualstraftaten" Die Partnerin von Freshfields Bruckhaus Deringer führt zahlreiche #MeToo-Untersuchungen bei Unternehmen. Hier berichtet sie aus der Praxis.


Teresa Stiens


Volker Votsmeier

14.10.2022 - 10:00 Uhr

Düsseldorf Simone Kämpfer arbeitet diskret. Wenn Unternehmen die Strafrechtlerin und frühere Staatsanwältin einschalten, geht es in aller Regel um heikle Themen. Meist geht es um die Aufarbeitung klassischer Wirtschaftsstraftaten von Betrug bis Untreue. Zuletzt wird Kämpfer vermehrt beauftragt, mögliche sexuelle Übergriffe in Firmen aufzuklären, bekannt unter dem Schlagwort #MeToo.

Simone Kämpfer
Die Juristin wurden schon mehrfach von Unternehmen beauftragt, mögliche sexuelle Übergriffe aufzuklären.
(Foto: Freshfields/Hartmut Nägele)

Bekannt ist etwa Kämpfers Tätigkeit für den Medienkonzern Axel Springer, in dem es darum ging, potenzielle Verfehlungen des ehemaligen "Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt aufzuklären. Reichelt kehrte nach einer kurzen Auszeit zunächst wieder an seinen Arbeitsplatz zurück, musste den Job schließlich aber aufgeben.

Springer ist nur eines von vielen Unternehmen, das Kämpfer in #MeToo-Fragen berät. Zurzeit gibt es Tage, an denen gleich mehrere Aufträge hereinkommen. Kämpfer erklärt das mit einer zunehmenden Sensibilität in der Wirtschaft - und mit schärferen Gesetzen.

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Frau Kämpfer, Sie sind Strafrechtsanwältin bei Freshfields. Wie sehr beschäftigt Sie das Thema #MeToo?

Sehr, es ist unseren Mandanten wichtig. Es gibt Tage, da kommen mehrere Anfragen im Zusammenhang mit #MeToo rein. In den letzten Monaten hatten wir sicherlich eine zweistellige Anzahl an Mandaten.

Woran liegt das?

Zum einen beobachte ich einen sehr klaren Kulturwandel in der Wirtschaft. Die Erwartungen der Belegschaft, der Kunden, der Öffentlichkeit und der Aktionäre an ethische Unternehmensführung sind stark gestiegen. #MeToo ist ein Thema, das heute ernster genommen wird als früher. Dieser Kulturwandel kommt aus den USA. Auch in Deutschland orientieren sich nicht nur internationale Unternehmen längst an dem, was dort üblich ist.

Was tut der deutsche Gesetzgeber?

Er hat das Strafrecht für Sexualdelikte in den vergangenen Jahren erheblich verschärft. Verhalten, das früher mancherorts noch toleriert wurde, kann heute strafbar sein. Wichtig ist aber auch: Nicht alles, was im #MeToo-Kontext passiert, ist strafbar - und nicht alles, was nicht strafbar ist, muss ein Unternehmen akzeptieren.

Wie erleben Sie das in der Praxis?

Das Thema bewegt viele Menschen in unterschiedlichster Weise - und teilweise verunsichert es sie auch. Kürzlich saß mir in einer Untersuchung ein Chefarzt gegenüber, dem vorgeworfen wurde, sich gegenüber Frauen im Ton vergriffen zu haben. Der Mann beschwerte sich: Vor fünf Jahren, sagte er, hätten doch alle auf der Station noch über seinen Witz gelacht. Heute säße er bei mir.

Der Fall zeigt, wie groß die Bandbreite möglicher Verfehlungen ist. Wann kommen Sie ins Spiel?

Das hängt davon ab, wann das Unternehmen mich beauftragt. In vielen Fällen bin ich nicht nur als Strafrechtlerin gefragt. Häufig ist zu Beginn einer Untersuchung völlig unklar, was überhaupt passiert - oder nicht passiert - ist. Dann wird vor allem auch meine Expertise als Untersuchungsführerin benötigt. Ich war neun Jahre lang als Staatsanwältin unter anderem im Sexualstrafrecht tätig. Auch in dieser Rolle habe ich alle Konstellationen gesehen, von falschen Beschuldigungen, anzüglichen Sprüchen bis hin zu schweren Sexualstraftaten. Kam ich als Staatsanwältin zu dem Ergebnis, dass das Verhalten nicht strafbar war, habe ich die Akte geschlossen.

Und heute?

Es ist komplizierter geworden. Es gibt unterhalb der Ebene des Strafrechts Verstöße gegen die Regeln unseres Miteinanders, etwa gegen unternehmensinterne Regeln, auf deren Verletzung Unternehmen reagieren möchten. Es ist dann oft Teil meiner Beratung - häufig Hand in Hand mit dem Arbeitsrecht -, mit dem Unternehmen zu erarbeiten, wie es mit dem Fall umgehen soll.

Wo liegen die größten Herausforderungen bei Ihrer Arbeit?

Oft in der Frage, wem ich glauben soll. In #MeToo-Sachverhalten gibt es, anders als in unseren wirtschaftsstrafrechtlichen Untersuchungen, häufig wenig objektive Beweismittel. Stattdessen geht es meistens um Begegnungen zwischen zwei Menschen, bei denen niemand dabei war; also klassische Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen. Die Suche nach der Wahrheit ist hier oft besonders schwierig. Im Strafrecht wurden für den Umgang mit solchen Fällen auf alle Situationen übertragbare und hilfreiche Kriterien erarbeitet. Kurz gesagt: Es braucht Erfahrung.

Wie gehen Sie vor?

Im ersten Schritt suche ich nach außerhalb der Aussagen liegenden Indizien, die für die eine oder andere Version sprechen. Komme ich hier nicht weiter, muss ich die Aussagen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung unterziehen. Wir arbeiten deshalb auch mit forensisch geschulten Psychologen zusammen oder stützen unsere Arbeit auf Gutachten von Experten.

Ihre Arbeit kann weitreichende Folgen haben.

Bei meiner Arbeit bin ich mir - insbesondere wegen der möglichen weitreichenden persönlichen und beruflichen Folgen für die Betroffenen - der Verantwortung gegenüber dem potenziellen Opfer und dem potenziellen Täter bewusst. Das ist eine besondere Herausforderung.

Betroffene brauchen Sicherheit und Strukturen

Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit als Anwältin von der als Staatsanwältin?

Gleich in beiden Jobs ist die Suche nach der Wahrheit. Auch die Ermittlungsmethoden ähneln sich; aber natürlich kann ich als Anwältin niemanden durchsuchen oder festnehmen. Ein weiterer klarer Unterschied: Als Anwältin berate ich auch präventiv, zum Beispiel bei dem Entwurf von Unternehmensrichtlinien zu Beziehungen zwischen Mitarbeitern.

Und wenn es trotz präventiver Beratung zu Übergriffen kommt?

Keine Richtlinie der Welt kann den schlimmen Einzelfall verhindern. Für diesen Fall muss es Strukturen geben, die den Opfern Rückhalt geben. Viele Unternehmen haben Whistleblower-Hotlines eingerichtet, oder es gibt Ansprechpartner für derartige Fälle; ich bin etwa als Vertrauensanwältin für verschiedene Unternehmen tätig. Betroffene müssen die Sicherheit haben, dass sie ernst genommen werden und dass ihren Hinweisen nachgegangen wird.

Schalten Sie bei potenziell strafbarem Verhalten die Staatsanwaltschaft ein?

Zunächst: Unternehmen sind dazu nicht verpflichtet. Aber wenn in #MeToo-Fällen Straftaten vorliegen, wollen Unternehmen häufig trotzdem die Staatsanwaltschaft einschalten - was ich dann in der Regel auch empfehle. Kein Unternehmen möchte sich dem Verdacht aussetzen, solche Straftaten hinzunehmen. Auch kann die Strafanzeige den Arbeitsrechtsprozess erleichtern.

Wer bekommt das Ergebnis Ihrer Untersuchungen am Ende zu sehen?

Jedenfalls nicht das Handelsblatt. Aber im Ernst: Dem Auftraggeber selbst übermitteln wir das Ergebnis natürlich, darüber hinaus kommt es darauf an, was am Anfang mit dem Mandanten vereinbart wurde. Auch Vertraulichkeitsvereinbarungen können abgeschlossen werden.

Kritiker bemängeln, dass private Untersuchungen durch Kanzleien im Unternehmensauftrag erfolgen und von diesem auch bezahlt würden. Sind Sie neutral und unabhängig?

Ja. Die Kritik ist unbegründet. Ich bin als Rechtsanwältin zur Unabhängigkeit verpflichtet, und das ist auch mein Berufsethos. Ich würde niemals außerhalb dieser Grenzen in einem Mandat tätig werden. Überdies leben wir von der Reputation, Sachverhalte unabhängig aufzuklären. Wir würden diese nicht für das Wohlwollen eines Mandanten aufs Spiel setzen. Damit wäre auch keinem Unternehmen geholfen. Zuletzt: Wer außer dem Unternehmen sollte eine Untersuchung bezahlen?

Frau Kämpfer, vielen Dank für das Interview.


Quelle: Handelsblatt