Hilferuf aus Thüringen : "Kapazitäten zur Flüchtlingsunterbringung sind aufgebraucht"

Von
Stefan Locke
Korrespondent für Sachsen und Thüringen mit Sitz in Dresden.

-Aktualisiert am 18.07.2022-06:44

Thüringens Kommunen haben kaum noch Kapazitäten, um Flüchtlinge unterzubringen. Erschwerend kommt die Ankunft vieler Roma-Großfamilien aus der Ukraine hinzu. Am Flughafen Erfurt-Weimar: Eine Ukrainerin läuft nach der Landung einer Maschine aus Moldau zur Essensausgabe.
Bild: dpa

Martina Schweinsburg ist Landrätin im ostthüringischen Greiz und bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als Präsidentin des thüringischen Landkreistags schickte die CDU-Politikerin jetzt einen Brief an den Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke), in dem sie angesichts des Zustroms ukrainischer Flüchtlinge mit drastischen Worten vor einem Kollaps warnte. Die tatsächlichen Möglichkeiten der Landkreise, die ukrainischen Flüchtlinge angemessen unterzubringen, seien erschöpft. Die teilweise Unterbringung in Schulturnhallen könne keine dauerhafte Lösung sein und werde "von der Bevölkerung zunehmend kritisch gesehen bzw. auch nicht mehr akzeptiert", heißt es in dem Schreiben. "Unsere Kapazitäten sind aufgebraucht. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand!"

Erschwerend komme hinzu, dass seit einigen Wochen aus der Erstaufnahmeeinrichtung des Freistaats in Suhl zunehmend Roma-Großfamilien auf die Landkreise verteilt werden, für die sich keine geeigneten Wohnungen finden. "In der ersten Zeit kamen vor allem Mütter mit Kindern und Großeltern, da gab es nie Probleme, sondern im Gegenteil eine breite Akzeptanz und große Hilfsbereitschaft", sagte Schweinsburg der F.A.Z.

Doch mit Verteilung der Großfamilien verändere sich die Lage nun. Es sei ein flächendeckendes Problem, mit dem mittlerweile jeder der 17 thüringischen Landkreise und auch die fünf kreisfreien Städte konfrontiert seien. In einem Fall sei eine Familie mit 84 Mitgliedern angekommen, berichtet die Landrätin; in ihrem Landkreis liege die Höchstzahl bisher bei 48 Mitgliedern, davon 37 Kinder und Jugendliche sowie ein 15 Jahre altes schwangeres Mädchen. Die meisten dieser Großfamilien kommen aus einigen wenigen Grenzorten der Ukraine zu Ungarn und Rumänien und sprechen auch kein Ukrainisch.

Private Vermieter kündigen ihre Verträge

Bisher habe man fast alle Flüchtlinge privat untergebracht, sagt Schweinsburg. "Doch für diese Dimensionen finden wir einfach kaum Möglichkeiten." Zudem kündigten angesichts der jüngsten Entwicklung immer mehr private Vermieter ihre Verträge. Sie fordert deshalb das Land auf, "unverzüglich Landesgemeinschaftsunterkünfte insbesondere für Großfamilien" bereitzustellen. Die durch Russlands Krieg in der Ukraine hervorgerufenen Folgen können Land und Kommunen nur gemeinsam bewältigen. Hinzu komme, dass ukrainische Flüchtlinge seit Juni nicht mehr unter das Asylbewerberleistungsgesetz, sondern in die Grundsicherung fallen, wodurch sich die Ausgaben für die Kommunen erhöhen.

Ein deutlicher Mehraufwand für Flüchtlinge sei unbestritten, sagt Thüringens Justizminister Dirk Adams (Grüne), der auch für Migration zuständig ist. Bis Mai haben Bund und Land alle Kosten übernommen; die künftig weiter zur Verfügung stehenden Bundesmittel sollten jedoch schneller ausgezahlt werden. Bei der Frage der Unterkunft warnte er allerdings vor zu großen Erwartungen. "Das Land hat kaum eigene Liegenschaften dieser Art, und der Markt ist ausgedünnt."

Ein ganzer Wohnblock mit drei Familien belegt

Zudem sei kaum noch Personal für den Betrieb und die Bewachung solcher Großobjekte zu bekommen. Er verstehe die Problemlage der Kommunen gut, da binnen vier Monaten allein in Thüringen mehr als 23.000 Flüchtlinge aufgenommen worden seien, sagt Adams. "Es war klar, dass es irgendwann knapp wird." Das Land habe jedoch keine Turnhallen oder ähnliche Objekte. "Wir müssen deshalb beim bewährten System bleiben." Dazu zähle selbstverständlich, die Kommunen zu unterstützen.

Auch die zuletzt häufige Ankunft von Großfamilienverbänden sei der Landesregierung bekannt, sagte Adams. Viele seien über die Verteilung aus anderen Bundesländern in den Freistaat gekommen. "Ja, die Wohnungsgröße ist ein Problem." Er kenne Fälle, in denen ein ganzer Wohnblock mit drei Familien belegt sei. Die Regierung versuche deshalb, die Verteilung der Flüchtlinge aus anderen Bundesländern zu dosieren. Klar sei allerdings auch, dass keine Unterschiede zwischen Flüchtlingen gemacht werden. "Das gilt für den Universitätsprofessor aus Kiew genauso wie für Roma."

Landrätin Schweinsburg wiederum hat den Eindruck, die Landesregierung nehme die Probleme der Kommunen nicht ernst genug. Kapazitätsprobleme bei der Unterbringung werden "nicht durch Schulungsangebote des Landes zum sensiblen Umgang mit anderen Kulturen" gelöst, sondern nur durch eine entschlossene Verantwortungsübernahme der Regierung. Sie erwarte deshalb auch "eine verbindliche Antwort des Ministerpräsidenten".

Bodo Ramelow wiederum hält sich in der Frage bedeckt. "Ton und Inhalt dieser vermeintlich öffentlichen Debatte in Bezug auf die Not von Menschen lassen mich ratlos zurück", sagte er der F.A.Z. "Der Respekt vor den zu lösenden Herausforderungen, um ukrainischen Flüchtlingen beizustehen, lässt mich öffentlich schweigen."


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