Von
Ralph Bollmann
Livia Gerster
Konrad Schuller
-Aktualisiert am 15.12.2023-16:27
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Es ist gegen drei Uhr früh am Mittwoch, als Olaf Scholz zu den Unterhändlern der FDP in die Kanzlerwohnung geht, in den achten Stock der Regierungszentrale. Christian Lindner ist dabei, der Parteivorsitzende und Finanzminister, Steffen Saebisch, sein Koordinator für Koalitionsfragen, und Wolf Reuter, sein designierter Staatssekretär für den Haushalt. Die vier ringen um den letzten Posten, der im Etat für 2024 noch offen ist, um 2,7 Milliarden Euro für die Flutopfer an der Ahr.
Als sie gegen halb vier zurückkehren, zu den übrigen Unterhändlern von Grünen und SPD, ist die Lösung gefunden. Nachdem die Koalition wochenlang darum rang, ob sie nun für Großkrisen wie den Ukrainekrieg eine neuerliche Ausnahme von der Schuldenbremse beschließen solle, soll es diese Notlage nun für ein relativ begrenztes Ereignis geben. Der Gedanke ist: Da einst die große Koalition unter Führung der Unionsparteien das Sondervermögen zum Ausgleich der Flutschäden beschlossen hatte, könne man sich mit der heutigen Opposition darüber wohl ins Benehmen setzen, damit sie nicht in Karlsruhe klagt.
Damit ist die Ampel fürs Erste gerettet. Zwölf Stunden lang sitzen Scholz, Lindner und der grüne Vizekanzler Robert Habeck mit ihren Getreuen da schon beisammen, der schwer erkältete Finanzminister hat lange erstaunlich gut durchgehalten, aber jetzt lässt die Wirkung der Tabletten nach, und er verabschiedet sich. Die Einigung ist da, es bleibt noch Kleinkram, aber den kann er auch den anderen überlassen. Die gehen erst um kurz nach fünf auseinander.
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Exakt vier Wochen minus fünf Stunden vorher, am Mittwoch, dem 15. November, um 10 Uhr, hatte das Bundesverfassungsgericht nach einer Klage der CDU jenes Gesetz für nichtig erklärt, mit dem die Ampelkoalition vorher 60 Milliarden Euro an übrig gebliebenen Kreditermächtigungen aus der Corona-Zeit in einen Klima- und Transformationsfonds verschob, um künftige Projekte zu finanzieren.
Damit legte das Gericht die Axt an die Wurzeln der Koalition, denn nur durch diese Geldverschiebung war es möglich gewesen, den Grünen-Wunsch nach Investitionen in den Klimaschutz mit dem FDP-Begehr zu verbinden, die Vorgaben der Schuldenbremse wieder einzuhalten.
Das ging nun nicht mehr. Die Grundlagen der Regierung waren weg, die Koalitionsverhandlungen von 2021 mussten in den folgenden vier Wochen gewissermaßen wiederholt werden. Dreizehnmal setzen sich Scholz, Lindner und Habeck in dieser Zeit zusammen, meist begleitet von ihren Sherpas, zu denen für die SPD Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, für die Grünen die Staatssekretärin Anja Hajduk und für die FDP Steffen Saebisch zählen - meist ergänzt durch Haushalts-Staatssekretär Werner Gatzer und seinen Nachfolger Reuter, oft auch durch Scholz' Wirtschaftsberater Steffen Meyer. So hat es zumindest eine der beteiligten Personen rekonstruiert.
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Die F.A.S. hat mit einem knappen Dutzend Personen gesprochen, die an den Verhandlungen entweder selbst beteiligt waren oder informiert wurden, mit Partei- und Fraktionsvorsitzenden etwa. Daraus ergibt sich ein Bild überraschender Wendungen, erstaunlicher Bündnisse und harter Kontroversen, von denen während der Verhandlungen bemerkenswert wenig an die Öffentlichkeit drang.
Der Hergang zeugt von dem Versuch, eine innenpolitische Großkrise mit dem Terminkalender einer bedeutenden Mittelmacht in Einklang zu bringen. Mal muss der Kanzler für einen Tag unterbrechen, weil er als Gastgeber eines Afrika-Gipfels einen Staats- oder Regierungschef nach dem anderen zum Speed-Dating empfängt. Mal kommen die Kollegen aus Brasilien zu Regierungskonsultationen, mal verhandelt Lindner in Brüssel über Haushaltsregeln für die EU, oder das belgische Königspaar schaut vorbei. Parteitage von Grünen und SPD kommen hinzu, die zusammen volle sieben Tage dauern.
Dabei braucht es eine ganze Weile, bis den Akteuren das Ausmaß des Desasters klar wird. Nach dem Paukenschlag aus Karlsruhe treten Scholz, Habeck und Lindner vor die Presse. Die Mienen: ernst, aber gefasst. Die Botschaft: alles unter Kontrolle. Das Urteil werde geprüft und das Notwendige getan. Sie sprechen gerade mal fünf Minuten. Ein Hinweis darauf, dass eigentlich gar nichts unter Kontrolle ist. Woher soll das fehlende Geld kommen? Die SPD will nicht beim Sozialen kürzen, die Grünen nicht beim Klima, die FDP aber will weder neue Schulden noch höhere Steuern. Keine Lösung nirgends. Nach außen gibt sich die Regierung gelassen, intern ist von einem "worst case" die Rede. "Die sind doch vom Kreml bezahlt!", ruft ein Koalitionspolitiker seinem Büroleiter fassungslos zu, als er das Urteil liest. Auch der Kanzler wird kalt erwischt. Man habe sich das Urteil "immer wieder" durchlesen müssen, wird er später sagen. Das klingt, als habe er lange nicht fassen können, was Karlsruhe da entschieden hat: dass es verfassungswidrig ist, Kredite einfach umzuwidmen. Vielen klingt ein Satz von Habeck noch im Ohr, den er vor Kurzem erst gesagt hat: Wenn diese Klage erfolgreich sei, werde das Deutschland so hart treffen, "dass wir das nicht bestehen werden".
Die Ampel weiß nach dem Urteil erst einmal nicht, wie es weitergehen kann. Eigentlich soll der Haushaltsausschuss schon in wenigen Tagen den Etat für 2024 zum Abschluss bringen. Wird das klappen? Am 21. November machen jedenfalls fast alle aus dem Berliner Betrieb, was sie sonst selten tun: Sie verfolgen live eine Expertenanhörung im Ausschuss. Dann, eine Woche nach dem Urteil, fällt die Entscheidung: Es geht nicht. Die Koalitionsfraktionen verschieben den Haushaltsbeschluss.
Schnell steht die Schuldenbremse im Zentrum des Streits - der einst vom Sozialdemokraten Peter Struck und dem Christdemokraten Günther Oettinger ersonnene Artikel 115 des Grundgesetzes, der Staatsverschuldung in normalen Zeiten fast völlig verbietet. Der FDP ist sie heilig, Grünen und Sozialdemokraten aber gefällt sie inzwischen nicht mehr. Beim Parteitag der Grünen ruft Habeck, der internationale Wettbewerb sei gnadenlos, Innovation brauche Geld. Andere wickelten sich "Hufeisen in die Handschuhe", aber Deutschland habe sich freiwillig die Hände hinter dem Rücken gefesselt. "Und so wollen wir einen Boxkampf gewinnen?"
Lindner kann das nicht gefallen. Wer die Schuldenbremse umgehen will, muss entweder mit Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz ändern oder eine Notlage ausrufen. Gegen beides sträubt sich die FDP mit ganzer Kraft, auch wenn der Finanzminister weiß: Zumindest für den Rest des Jahres 2023 führt an einem Notlagenbeschluss kein Weg vorbei, nachträglich lässt sich nichts mehr sparen.
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Mit der Opposition kommt der Showdown am 28. November. Zwei Wochen hat das Land auf ein klärendes Wort des Kanzlers gewartet. Jetzt tritt er vor den Bundestag - und sagt fast gar nichts. Angesichts der laufenden Verhandlungen innerhalb der Ampel kann er auch gar nichts sagen. Den Bürgern verspricht er zwar, an ihrem Alltag werde das Urteil nichts ändern, aber er weist keinen Weg. Die Opposition lacht höhnisch. Dann tritt CDU-Chef Merz ans Pult, nennt den Kanzler einen "Klempner der Macht" und legt sich fest: "Wir werden an der Schuldenbremse des Grundgesetzes festhalten. Versuchen Sie erst gar nicht, einen Keil in die Union zu treiben!"
Damit ist auch für die Letzten bei SPD und Grünen klar: Für die Grundgesetzänderung zur Reform der Schuldenbremse, wie Habeck sie gerade gefordert hat, wird es die nötigen Stimmen aus der Union nicht geben. Die Debatte in der Koalition konzentriert sich jetzt nur noch auf die Frage, ob auch 2024 eine Notlage erklärt werden kann, um die Schuldenbremse zu umgehen. Dafür reicht eine einfache Mehrheit, sofern die Begründung vor dem Verfassungsgericht standhält.
Die Verhandlungen in der Ampel nehmen Fahrt auf. Eine Frage, die zunächst im Zentrum stand, erledigt sich erstaunlich schnell. Zunächst hatte es so ausgesehen, als müsse Habeck auf wesentliche Teile seiner Klimaprogramme verzichten, aber das ist schnell vom Tisch. Die Subventionen für die Chipfabriken will auch der Kanzler, die Förderprogramme für den Heizungstausch gelten als alternativlos, für klimafreundlichen Stahl gibt es zum Teil schon verbindliche Zusagen. Von nun an konzentrieren sich alle auf die Frage der Notlage.
Am Freitag, dem ersten Dezember, um sieben Uhr morgens fliegt Scholz zur Klimakonferenz nach Dubai, anderthalb Tage nach dem Schlagabtausch im Bundestag. Seine ursprünglich für den späten Samstagabend vorgesehene Rückkehr verlegt er um sieben Stunden vor, um in Berlin wieder für Krisengespräche zur Verfügung zu stehen. Am Sonntagabend um neun Uhr sagt dann auch Habeck eine Reise zur Klimakonferenz ab, "auf Bitten von Bundeskanzler Olaf Scholz", wie eine Sprecherin erklärt. Seine Anwesenheit in Berlin sei notwendig, "um die Gespräche über den Haushalt 2024 weiter voranzubringen". Damit tritt ein, was der Minister eigentlich hatte vermeiden wollen: Seine Absage verstärkt den Eindruck, dass nun wirklich Krise herrscht. Weitere Krisenrunden verstreichen ohne Einigung, bis zu drei am Tag. Allein am Mittwoch, dem 6. Dezember, treffen sich die Unterhändler dreimal, unterbrochen nur durch eine kurze Kabinettssitzung und den Besuch des belgischen Königspaars. Fürs Erste gilt aber: keine Nachtsitzungen, gegen elf, halb zwölf ist meistens Schluss. Zu essen gibt es nur kalte Brotzeit, was die einen spartanisch, die anderen angemessen finden. Manchmal trinkt man nach getaner Arbeit noch ein Glas Wein.
Die Stimmung in den Runden wird als sachlich und konstruktiv beschrieben, frei von Gereiztheiten ist sie nicht. Die FDP-Leute sind manchmal genervt von der Neigung des Kanzlers, sehr lange zu reden, statt direkt auf den Konflikt zuzusteuern. Das ist natürlich Taktik, er will ja seine Koalition retten, die Gemüter beruhigen, Gelassenheit demonstrieren. Umgekehrt empfinden die anderen Lindners Auftreten als sehr konfrontativ, sie finden, er lasse wenig Raum für Kompromisse. Nachdem die Grünen die meisten ihrer Klimaprogramme in Sicherheit gebracht haben, konzentriert sich der Konflikt auf den Streit zwischen SPD und FDP um die Schuldenbremse. Die Grünen unterstützen zwar die Position des Kanzlers, der die Notlage ausrufen will, werfen sich aber nicht mit ganzer Kraft in dieses Gefecht.
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Plötzlich geistert eine Idee durch den Bundestag, die Abgeordneten von SPD und Grünen Hoffnung macht: Man könnte die Notlagenerklärung, die man so dringend möchte, um neues Geld aufnehmen zu können, mit dem Krieg in der Ukraine begründen. Dafür könnten auch Abgeordnete der FDP offen sein. Und die Union könne schwer etwas dagegen sagen, so hofft man.
In der Regierung wächst die Hektik. In wenigen Tagen steht ein entscheidender EU-Gipfel bevor. Der Widerstand Ungarns gegen Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine muss überwunden werden, und alle wissen: Scholz darf nicht geschwächt nach Brüssel fahren. Ein führender Politiker der Ampelparteien zitiert eine EU-Kommissarin mit den Worten: "Wenn Deutschland ein Problem hat, dann hat Europa ein Problem."
Doch erst einmal ist SPD-Parteitag. Und den nutzt der Kanzler für Signale nach innen und außen. Die Stimmung ist gut. Am Samstagmorgen um zehn Uhr, es ist inzwischen der 9. Dezember, spricht der Kanzler. Zunächst zieht er rote Linien beim Sparen, wofür er frenetischen Applaus bekommt: "Für mich ist ganz klar: Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben." Das Wort Schuldenbremse erwähnt er nicht, wohl aber die Umstände, unter denen er eine Notlage erkennen könnte. Es brauche eine Botschaft an Putin: "Er darf nicht darauf rechnen, dass wir nachlassen. Deshalb müssen wir, wenn es erforderlich wird und andere schwächeln, auch unseren Beitrag möglicherweise noch größer leisten. Und deshalb müssen wir auch Entscheidungen treffen, die uns in der Lage halten, das tun zu können."
Das ist eine Brücke zu Lindner - und wider Erwarten reißt der sie nicht sofort wieder ein. Wenige Stunden nach der Rede des Kanzlers, um 15 Uhr 21, schreibt er im sozialen Netzwerk X: "Bei allem, was wir noch lösen müssen und auch können, kann ich Olaf Scholz vor allem bei einem nur Recht geben: Die Unterstützung der Ukraine ist eine Investition auch in unsere Sicherheit." Bei den Grünen wird das so interpretiert, dass er der Verbindung der Themen Ukraine und Schuldenbremse zustimmen könnte. Bei manchen kommt Optimismus auf.
Er hält nur kurz. Ein Antrag von der FDP-Basis, per Mitgliederbefragung den Austritt aus der Ampel zu beschließen, hat die nötige Unterschriftenzahl bekommen. Die Frage soll lauten: "Soll die FDP die Koalition mit SPD und Grünen als Teil der Bundesregierung beenden?" Für die Spitze der FDP heißt das: Kompromisse werden jetzt schwieriger. Bei den Grünen ist die Stimmungslage jetzt wieder gemischt. Die Mitgliederbefragung der Liberalen schürt die Sorge, dass die FDP jetzt auf stur schalten könnte - notfalls bis zum Scheitern der Ampel.
Bei den Grünen analysieren manche die Lage so: Die FDP will zwar nicht von sich aus raus aus der Regierung, aber vielleicht wird sie auch nicht bleiben können. Deshalb legt sie es darauf an, von anderen rausgeworfen zu werden. Sie will, dass die Verhandlungen über den Haushalt 2024 wegen ihres heroischen Kampfes für die Schuldenbremse scheitern - und zwar konkret an der Frage, ob der Bundestag 2024 noch einmal eine Notlage erklären soll. Das Worst- Case-Szenario der Grünen sieht so aus: Die FDP bleibt hart. Dem Kanzler bleibt nichts anderes übrig, als ohne sie einen Notlagenbeschluss in den Bundestag einzubringen und die Vertrauensfrage zu stellen. Die FDP lehnt ab, der Kanzler scheitert, es gibt vorgezogene Wahlen - und in der Wahrnehmung heißt der Schuldige Olaf Scholz.
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So ist die Analyse der Grünen am 12. Dezember, dem Tag, an dem die entscheidende Runde beginnt. Die Stimmung ist gespannt. Friedrich Merz steigert die Nervosität noch, indem er verkündet, er werde "ein erneutes Klageverfahren in Karlsruhe ganz ernsthaft in Erwägung ziehen", wenn die Ampel versuche, das Loch für 2024 tatsächlich über einen Notlagenbeschluss zu schließen.
Es ist klar, bis zum nächsten Morgen muss eine Entscheidung fallen. Am nächsten Tag hält der Kanzler eine Regierungserklärung, dann fliegt er zum EU-Gipfel nach Brüssel. Außerdem müssen Änderungen bei Steuern und Gebühren bis Freitag im Bundestag beschlossen sein. Am Morgen treffen sich die Unterhändler erst mal mit den Fraktionsvorsitzenden. Den größten Eindruck macht Christian Dürr, der Chef der FDP-Abgeordneten. Er lehnt einen Notlagenbeschluss kategorisch ab. Die Botschaft ist klar, auch an den eigenen Parteivorsitzenden und Finanzminister: Selbst wenn sich die Spitzenrunde auf einen Notlagenbeschluss verständigt, er könnte am Widerstand aus der Fraktion scheitern.
Danach bringt Scholz eine Idee auf: Wie wäre es denn, wenn wir die Notlage für 2024 zwar nicht erklären, aber uns einen solchen Beschluss vorbehalten - für den Fall, dass die Lage in der Ukraine eskaliert oder die Vereinigten Staaten den Kampf gegen Putin nicht mehr finanzieren? Für Außenstehende mag das klingen, als wolle der Kanzler den Krieg für einen innenpolitischen Kompromiss instrumentalisieren. Aber er meint es ernst. Ohne eine solche Öffnungsklausel, fürchtet er, könnte der russische Präsident die deutsche Haushaltsnot als Freifahrtschein für seine Expansionsgelüste interpretieren, weil dem Westen irgendwann das Geld ausgehen könnte - oder Kriegskosten Sozialkürzungen nötig machen.
Am Nachmittag kommen die Unterhändler dann zur eigentlichen Verhandlung zusammen. Im Laufe des Abends nähern sie sich dem Ukraine-Vorschlag allmählich an. Es gibt aber ein Problem: Wenn die Notlage tatsächlich erst mal nicht ausgerufen wird, fehlt immer noch Geld. Um entscheidende Milliarden wird jetzt gerungen. Erst sehr spät kommen die umweltschädlichen Subventionen ins Spiel. Lindner, der Mehrbelastungen für die Bürger lange abgelehnt hat, zeigt sich auf einmal kompromissbereit. Die anderen werten das als Zeichen dafür, wie ernst es ihm mit der Schuldenbremse ist.
Beschlüsse fallen schließlich zulasten von Politikern, die gar nicht am Verhandlungstisch sitzen. Der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ist danach ziemlich sauer, als er von der Kürzung beim Agrardiesel erfährt. Ändern kann er daran nichts mehr. Hier werde "top-down" verhandelt, erklären die Unterhändler, also von oben nach unten, anders als bei der Haushaltsaufstellung sonst üblich. Die Männer und Frauen im Verhandlungsteam sitzen nicht die ganze Zeit an einem Tisch zusammen. Mal ziehen sich die Grünen ins Büro des Kanzleramtsministers zurück, mal die FDP in die Kanzlerwohnung, mal besprechen sich die Unterhändler von Grünen und FDP im Kleinen Kabinettssaal. Der Kanzler pendelt hin und her.
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Ganz am Schluss ist noch die Frage offen, woher das Geld für die Fluthilfe im Ahrtal kommen soll. Lindner wehrt sich lange gegen einen Notlagenbeschluss, auch wegen juristischer Bedenken: Lässt sich ein relativ kleiner Betrag wirklich als Schock für den Haushalt darstellen? Was, wenn die Union wieder klagt - und das Gericht dem Finanzminister kurz vor der nächsten Wahl schon wieder einen Verfassungsbruch bescheinigt? Am Ende steht der Kompromiss, die Frage erst mit der Union zu sondieren. Wenn die nicht klagt, kann die Sache eine Chance haben.
Nachdem der erkältete Finanzminister gegangen ist, reden die anderen noch über Verfahrensfragen. Es ist klar, dass sie bis zum nächsten Tag nichts Schriftliches vorweisen können. Soll man die Beschlüsse deshalb erst am Wochenende bekannt geben? Die Idee wird schnell verworfen. So lange kann man die Sache nicht unter der Decke halten, und vor dem EU-Gipfel soll ja Klarheit her.
Also stellen sich Scholz, Habeck und Lindner am nächsten Mittag um zwölf übermüdet vor die Presse. Kurze Statements, keine Fragen, danach die Regierungserklärung im Bundestag, in der Scholz nur zwei Minuten über den Haushalt spricht. Vieles ist noch unklar, aber die Koalition ist gerettet. Fürs Erste.