Klärung der Gerichtsbarkeit : Haager Gericht sieht sich auch für von Israel besetzte Gebiete zuständig

Von Jochen Stahnke, Tel Aviv

Politischer Korrespondent für Israel, die Palästinensergebiete und Jordanien mit Sitz in Tel Aviv.

-Aktualisiert am 06.02.2021-13:29

Eine Anklage zu möglichen Kriegsverbrechen Israels oder der Hamas im Gaza-Krieg wäre zulässig, entscheidet der Internationale Strafgerichtshof. Auch die israelische Siedlungspolitik könnte Gegenstand sein. Widerstand kommt aus Jerusalem und Washington. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag
Bild: AFP

Die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs hat entschieden: Das Haager Gericht darf über mögliche Kriegsverbrechen Israels sowie der islamistischen Hamas befinden. Eine Anklage zu möglichen Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg 2014 sowie zur israelischen Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten wäre zulässig. Damit erklärt das Tribunal auch eigene Gerichtsbarkeit über die seit 1967 von Israel besetzten Gebiete, über das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen, wie es am Freitagabend bekanntgab.

Die Chefanklägerin des Gerichts Fatou Bensouda hatte nach fünf Jahre dauernden Vorermittlungen in Israel und den palästinensischen Gebieten 2019 erklärt, die Beweislast reiche für Ermittlungen aus. Die Frage aber, über welches Territorium der Haager Strafgerichtshof Recht sprechen dürfe, hatte sie an die Vorverfahrenskammer abgegeben.

Bensoudas Amtszeit endet im Juni

Palästina ist seit 2015 Mitglied des Strafgerichts und hatte die Untersuchung über mögliche Kriegsverbrechen auf eigenem Territorium umgehend an Den Haag übertragen. Israel dagegen lehnt die Zuständigkeit des Gerichts ab, da Palästina die Kriterien eines Staates nicht erfülle. Demnach verfüge es auch nicht über eine Gerichtsbarkeit in Ostjerusalem oder über die israelischen Siedlungsgebiete im Westjordanland, die es an Den Haag übertragen könnte.

Den Haag aber entschied, dass Palästina sehr wohl ein Staat im Sinne des Römischen Statuts sei, das die Grundlage des Gerichts bildet. Unter Verweis auf UN-Sicherheitsratsresolutionen erklärten die Richter die Linien von 1967 für maßgeblich zur Bestimmung der eigenen Gerichtsbarkeit. Über die territoriale Endstatusfrage Palästinas wolle man damit nicht entscheiden, hieß es in der Begründung.

Chefanklägerin Bensouda äußerte, sie werde die folgenden Schritte nun sorgfältig prüfen. Bis es überhaupt zu einer Anklage gegen Israel und die Hamas kommen kann, dürften Jahre vergehen. Bensoudas Amtszeit endet im Juni.

Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Fatou Bensouda
Bild: Reuters

Die israelische Regierung kritisierte das Gericht auf das Schärfste für seinen Beschluss. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte, der Internationale Strafgerichtshof sei "eine politische und keine juristische Einrichtung". Das Gericht betreibe "reinen Antisemitismus", wenn es gegen Israel zu "gefälschten Kriegsverbrechen ermittelt". Das Haager Gericht sei "gegründet worden, um Greueltaten wie den Nazi-Holocaust gegen das jüdische Volk zu verhindern" und ziele jetzt "auf das einzige Land des jüdischen Volkes", während es sich weigere, brutale Diktaturen in Syrien oder Iran zu untersuchen, kritisierte Netanjahu.

Israel kann die richterliche Entscheidung nicht anfechten, da es dem Gericht nicht beigetreten ist. Regierungsmitarbeiter verbreiteten in Jerusalem, Friedensgespräche mit den Palästinensern seien jetzt noch weiter in die Ferne gerückt. "Die Entscheidung ist nicht gut für Israel und nicht gut für die israelisch-palästinensischen Friedensbemühungen."

Entscheidung fiel nicht einstimmig

Auch das Außenministerium der Vereinigten Staaten gab "ernsthafte Bedenken" zu Protokoll. Washington sehe die Bedingungen, die Palästina als souveränen Staat qualifizierten, für nicht erfüllt an. Deswegen sei es auch nicht rechtens, dass es als Staat in internationalen Organisationen wie dem Internationalen Strafgerichtshof mitwirke. Dieser Darstellung schloss sich einer der drei Haager Richter, der Ungar Péter Kovàcs, im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen weitgehend an. Die Entscheidung in Den Haag fiel nicht einstimmig.

Der palästinensische Ministerpräsident Muhammad Schtajeh sprach von einem "Sieg des Rechts, der Menschlichkeit und des Friedens". Er warf den Israelis vor, die Haager Entscheidung zu politisieren.

Auch Deutschland könnte in Erklärungsnot kommen. Die Bundesrepublik hatte dem Internationalen Gerichtshof vergangenes Jahr als "Freund des Gerichts" (Amicus Curiae) seine Rechtsauffassung dargelegt, wonach keine Staatlichkeit Palästinas gegeben sei und es eine Haager Gerichtsbarkeit für die infrage stehenden Ermittlungspunkte deshalb nicht geben könne. Berlin hatte sich zum ersten Mal in ein laufendes Verfahren des Gerichtshofs eingeschaltet und an die Seite der Staaten Uganda, Brasilien, Österreich, Tschechische Republik, Australien und Ungarn gestellt.

Die Haager Richter wiesen die deutsche Haltung in ihrer Entscheidung zurück. Schließlich habe auch die Bundesrepublik bei der Aufnahme Palästinas zum Römischen Statut vor sechs Jahren und bis heute keine Einwände erhoben und die Mitgliedschaft der Palästinenser im Gerichtshof akzeptiert, argumentierte Den Haag.

Die Vorwürfe

Die Haager Anklägerin Fatou Bensouda sieht im Zusammenhang mit dem Gazakrieg 2014 eine "fundierte Grundlage zur Annahme, dass Angehörige der israelischen Streitkräfte (...) Kriegsverbrechen begangen haben." Sie nennt unter anderem absichtsvolle unverhältnismäßige Angriffe in mindestens drei Fällen.

In Bezug auf die Massenproteste an der Sperranlage zum Gazastreifen sieht Bensouda Grund zur Anklage gegen israelische Armeeangehörige, die "nicht-tödliche und tödliche Mittel gegen Personen angewandt haben, die seit März 2018 an Demonstrationen am Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel teilgenommen haben und die Berichten zufolge zur Tötung von zweihundert Individuen, darunter mehr als vierzig Kinder und zur Verwundung von Tausenden weiteren geführt hat".

Drittens gebe es ausreichend Grund zur Annahme, dass Angehörige der israelischen Behörden im Kontext der israelischen Besatzung des Westjordanlands und Ostjerusalems Kriegsverbrechen im Sinne des Transfers von israelischer Bevölkerung in besetztes Gebiet seit 2014 begangen hätten. Dieses Datum stellt den Beginn möglicher Gerichtsbarkeit, seit "Palästina" dem Gericht beigetreten ist..

Weiter verwies das Haager Gericht in seiner Erklärung auf die Vorermittlungsergebnisse der Anklägerin, dass es "ausreichend Grundlage zur Annahme gibt, dass Angehörige der Hamas und anderer palästinensischer bewaffneter Gruppen (...) Kriegsverbrechen im Sinne der absichtsvollen Ausrichtung von Angriffen auf (israelische) Zivilisten und zivile Gegenstände begangen haben".


Quelle: faz vom 06.02.2021