Günstig gelegene Festung: Was der Fall von Wuhledar für die ukrainische Verteidigung bedeutet

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Robert Putzbach Redakteur in der Politik

04.10.2024, 17:15 Lesezeit: 3 Min.

Die Formulierung, mit der die ukrainische Armee die Aufgabe der Verteidigung von Wuhledar begründete, ist mittlerweile zu einer Standardformel geworden: "Obwohl der Feind durch die lang anhaltenden Kämpfe zahlreiche Verluste erlitten hatte, gab er den Versuch, Wuhledar einzunehmen, nicht auf." Um eine Einkesselung der eigenen Soldaten zu verhindern, habe man den Befehl zum Abzug erteilt und werde nun neu Position beziehen. In diesem Fall ist der Verweis auf hohe russische Verluste keine Floskel. Wuhledar ist durch die Aufnahmen brennender russischer Panzerkolonnen Anfang des Jahres 2023 zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands geworden.

Wuhledar liegt auf einer Anhöhe und war deshalb leichter zu verteidigen. Aus der Stadt im Süden des Donbass konnten die Ukrainer wichtige Nachschubwege unter Feuer nehmen. Was ändert sich nun?

Damals gelang es den Verteidigern innerhalb weniger Wochen nach eigenen Angaben, rund 130 gepanzerte Fahrzeuge zu zerstören. Hohe Angaben über gegnerische Verluste sind in diesem Krieg häufig und sollen eigene Erfolge betonen, selbst wenn sich die Frontlinie nicht verschiebt. Im Februar und März 2023 allerdings belegten zahlreiche Videos die Zerstörung russischer Militärtechnik rund um Wuhledar in großer Zahl - bei Hinterhalten oder durch Minen.

Nach Angaben der Ukrainer verlor eine russische Marineinfanteriebrigade bei den eigenen Frontalangriffen so viele Männer und Material, dass die Einheit praktisch kampfunfähig war. Die Aufnahmen der aufgeriebenen Kolonnen gingen um die Welt und verstärkten bei vielen Beobachtern den Eindruck, dass russische Kommandeure nicht aus früheren Fehlern (der damals schon ein Jahr andauernden) Invasion gelernt hatten.

Tonnenschwere Gleitbomben gingen auf die Stadt nieder

Nach weiteren Monaten russischen Bombardements ist in der Stadt, in der einst 15.000 Menschen lebten, nicht mehr viel intakte Infrastruktur übrig. Aktuelle Drohnenaufnahmen zeigen Ruinen und beschädigte Hochhausblocks. Nach ukrainischen Angaben waren zum Zeitpunkt des Rückzugs nur noch rund 100 Zivilisten in der Stadt - überwiegend ältere Menschen, die in Kellern ausharrten.

F.A.Z.

Am Ende könnten die russische Luftüberlegenheit und die Anzahl an Artilleriesystemen und -munition entscheidend gewesen sein. Russlands Luftwaffe nutzte bei Angriffen verstärkt gelenkte Gleitbomben mit verheerender Sprengwirkung, zuletzt sogar drei Tonnen schwere Exemplare.

Laut dem österreichischen Militäranalysten Markus Reisner ist der ukrainische Rückzug aus der Stadt für Russland aber nur ein Erfolg auf der operativ-strategischen Ebene. Der Verlust deute nicht auf einen möglichen großen russischen Durchbruch hin, sagte er dem ZDF. Bedeutsam war die Stadt, die im Süden des Gebiets Donezk nahe der Gebietsgrenze zum Oblast Saporischschja liegt, vor allem für die Ukrainer.

Da die Stadt auf einer Anhöhe liegt, war sie gut zu verteidigen und ermöglichte es, russische Nachschublinien unter Feuer zu nehmen, auch die Eisenbahnstrecke. Vermutlich wird der Frontverlauf nicht lange unmittelbar an der Stadtgrenze verharren. Reisner erklärte, "wer die Bergbaustädte beherrscht, beherrscht in der Regel auch das umliegende Land". Das liege an der Topographie in dieser Region. Damit würden auch Russlands Versorgungslinien in größere Entfernung zu ukrainischen Stellungen rücken. Deshalb könnte sich die Abhängigkeit der Besatzer von der Krim-Brücke verringern.

Ausgedünnte Reihen bei der eingesetzten Brigade

Einem Bericht des ukrainischen Investigativmediums "slidstvo.info" zufolge trugen neben der Feuerunterlegenheit der Ukrainer auch personelle Ausdünnung und fehlende Rotation zu dem Verlust von Wuhledar bei. Der Bericht beruft sich auf Aussagen eines hochrangigen Offiziers der 72. Brigade, die die Stadt seit August 2022 ununterbrochen verteidigte. "Nach zwei Jahren Kampf ohne Rotation und Ruhepause sind wir zu einer handlungsunfähigen Einheit geworden, die Brigade wurde ausgelöscht", äußerte der Offizier.

Man habe versucht, die ausgedünnten Reihen mit schlecht ausgebildeten Rekruten aufzufüllen, die oft schon älter als 50 Jahre waren. Nach Angaben des Offiziers waren mitunter von 350 Soldaten in einem Bataillon "nur noch 30 Leute übrig". Auch die gute Lage auf der Anhöhe sei angesichts der vielen russischen First-Person-View-Drohnen kein entscheidender Vorteil gewesen. Zuletzt sei es den Russen gelungen, die ukrainischen Versorgungslinien aus der Ferne zu verminen. Die Pressestelle der 72. Brigade äußerte sich auf Nachfrage der Journalisten zunächst nicht zu den Umständen des Rückzugs. Erst wenige Tage vor dem Fall von Wuhledar wurde der Brigadekommandeur ausgetauscht.

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Mögliche Gefahr für die ukrainischen Verteidiger könnte sich künftig weiter nördlich - zwischen Wuhledar und Pokrowsk - entwickeln. "Dort bildet sich womöglich schon der nächste Kessel", sagte Reisner dem ZDF.


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