Grüne Vertrieben aus dem Land der Illusionen

Stand: 09.01.2022 | Lesedauer: 6 Minuten

Von

Claus Christian Malzahn

Hannelore Crolly

Ulrich Exner

Die Grünen standen noch nie so gut da wie heute. Sie haben enorme Erwartungen geweckt, müssen als Regierungspartei nun jedoch einen Sinn für durchsetzbare Politik entwickeln. Gelingt ihnen das? Gereizte Töne sind nicht zu überhören. Umweltministerin Steffi Lemke mit den Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock
Quelle: Illustration: Thomas Kuhlenbeck

Eigentlich ist alles gut. Die Grünen haben bei der Bundestagswahl mit 14,8 Prozent ein Rekordergebnis hingelegt. Nach 16 Jahren Opposition gehören fünf grüne Ministerinnen und Minister wieder einer Bundesregierung an. In zehn der 16 Länder sind die Grünen ebenfalls in unterschiedlichsten Koalitionen an der Macht.

Und 2022 fing vielversprechend an: In der Silvesternacht wurden drei Atomkraftwerke vom Netz genommen. In diesem Jahr könnten die Grünen ihre Regierungsquote noch steigern. Im Saarland, in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen stehen Wahlen an. Doch die Partei ist nicht in Feierstimmung. "Wenn das mal alles gut geht", sagt eine Führungskraft. Schiefgehen kann viel. Realpolitik ist immer kompliziert. Das größte Risiko für die Grünen sind sie selbst, ihre hochgesteckten Ambitionen und die Erwartungen der eigenen Anhängerschaft.

Im Bundestagswahlkampf hatte die Öko-Partei am Ende nur auf die Bekämpfung des Klimawandels gesetzt. Die Abstimmung wurde zum letzten Termin stilisiert, von dem an eine Katastrophe noch verhindert werden könnte. Kleiner hatten es die Grünen nicht. Beinahe 15 Prozent wurden erreicht, fast eine Verdoppelung der Stimmen im Vergleich zu 2017. Gehofft hatte man allerdings auf wesentlich mehr. Man tröstete sich zunächst mit einer Floskel: Der politische Auftrag der Grünen sei nun "größer als das Ergebnis".

Was aber, wenn jetzt schon klar wird, dass man diesen großen Auftrag kaum erfüllen kann? Noch vor Silvester dämpfte Parteichef Robert Habeck die Erwartungen. Deutschland werde in den kommenden zwei Jahren die selbst gesteckten Klimaziele nicht erreichen können, sagte der neue Minister für Wirtschaft und Klimaschutz der "Zeit". "Wir werden unsere Ziele vermutlich auch für 2022 noch verfehlen, sogar für 2023 wird es schwierig genug. Wir fangen mit einem drastischen Rückstand an", stellte er ernüchternd fest. Dass Habeck sich über seinen Job keine Illusionen macht, zeigt auch seine Personalpolitik. Er tauschte der "Bild"-Zeitung zufolge sechs von elf Abteilungsleitern aus.

Das Signal: Die versprochene politische Zeitenwende soll nicht in der Bürokratie versanden. Doch der grüne Aufbruch wird schwierig. Habecks Aussagen zu den Klimazielen klingen wie ein Versuch, bei der eigenen Klientel einer Produktenttäuschung vorzubeugen. In Partei und Fraktion macht sich seit Wochen eine entsprechende Vorahnung breit: Für die denkbaren Erfolge der Ampel-Koalition, etwa bei der Erhöhung des Mindestlohns und bei einer Offensive in Sachen Digitalisierung, würden SPD und FDP die Lorbeeren ernten. Sollte man aber die Ziele beim Klimakampf verfehlen, gehe das mit den Grünen nach Hause, befürchten Spitzenpolitiker der Partei.

Solche Probleme kann man managen, wenn der Laden gut aufgestellt ist. Aber die Grünen stecken mitten in einer Metamorphose. Die 118-köpfige Bundestagsfraktion - die Hälfte ihrer Mitglieder ist neu im Parlament - muss sich in Windeseile von einer Oppositionstruppe in eine Regierungsunterstützungsmaschine verwandeln. Auch die Führungsebene wird neu sortiert.

Die Bundestagsfraktion wird nun von Katharina Dröge und Britta Hasselmann geleitet. Wegen der vorgeschriebenen Trennung von Amt und Mandat müssen Robert Habeck und Annalena Baerbock den Parteivorsitz abgeben; Ende Januar werden voraussichtlich die Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour und Ricarda Lang als Nachfolger gewählt. Also insgesamt sechs Führungsleute. Wer hat am Ende den Hut auf? Bei Sozialdemokraten und Liberalen ist die Machtfrage mit Scholz und Lindner leichter zu beantworten.

Das Sextett wird zunächst damit beschäftigt sein, Wunden zu heilen. Beim Gerangel um grüne Ministerposten sei "Vertrauen zerstört" worden, sagte Nouripour kürzlich. Auch mit anderen Hypotheken wird man sich noch befassen müssen. Denn eine selbstkritische Debatte über Pleiten, Pech und Pannen im Wahlkampf blieb bisher aus.

Die aber war nach der Wahl von der Parteizentrale versprochen worden. Doch still ruht der See. Das Problem: Eine schonungslose Aufarbeitung der Wahlkampffehler würde nicht nur die amtierende Außenministerin beschädigen. Vor allem der ebenso mächtige wie selbstbewusste Landesverband Baden-Württemberg will den Berlinern die schmerzhafte Debatte aber nicht ersparen. So nahm Ministerpräsident Winfried Kretschmann bereits im November bei einer Auslandsreise kein Blatt vor den Mund. Bei der Bundestagswahl seien die Grünen "krachend gescheitert", sagte er.

Die historische Chance, 2021 das Kanzleramt zu erobern, sei in Berlin verbaselt worden, heißt es nicht nur in Stuttgart. Laut Kretschmann lag das nicht an bösen politischen Gegnern. "Wenn Sie Ministerpräsident oder Kanzler werden wollen, müssen Sie Politik für alle machen", erklärte er. Wer das höchste Amt anstrebe, dürfe eben nicht nur der eigenen Anhängerschaft ein Angebot machen, sondern müsse an alle adressieren. "Da kann man nicht nur die Lieder der eigenen Partei singen. Ich glaube, das ist nicht gelungen."

Das saß. Doch seit dieser Attacke herrscht betretenes Schweigen. Dennoch rumort es in der Partei. Dass etwa Bundesgeschäftsführer Michael Kellner nach der aus Stuttgarter Sicht vergeigten Wahl zum Parlamentarischen Staatssekretär und Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung berufen wurde, stößt nicht nur im Ländle manchen Grünen sauer auf.

So steht die Frage im Raum, wie viele offene Konflikte sich die Grünen als Regierungspartei leisten können und wollen. Das gilt nicht nur für Berlin. Auch in den Landesverbänden geht es mitunter heftig zur Sache. So wurden die saarländischen Grünen nach chaotischer Listenaufstellung und erbitterten Machtkämpfen gar von der Bundestagswahl ausgeschlossen. Das Saarland-Mandat fehlt nun in der Hauptstadt. Am Freitagabend verständigten sich die Delegierten auf einem Parteitag in Saarbrücken immerhin auf eine Landesliste für die Landtagswahl im März. Doch ob die Querelen damit wirklich beendet sind, bleibt abzuwarten.

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Auch in Schleswig-Holstein geht es ruppig zu, selbst wenn dort kein Desaster wie im Saarland droht. Bei der Aufstellung der Liste für die Landtagswahl im kommenden Mai ließen die Parteitagsdelegierten die Landesvorsitzende Ann-Kathrin Tranziska gleich dreimal durchfallen, versperrten der langjährigen Parteichefin so den Weg ins Kieler Parlament und bewiesen, dass die Basis immer noch für kleinere Revolten gut ist. Seit zehn Jahren regieren die Grünen im Norden schon mit; die Chancen auf Verlängerung sind freilich gut.

Das gilt auch für Niedersachsen, wo im Oktober gewählt wird. Sowohl SPD als auch CDU, bisher in einer großen Koalition wenig herzlich verbunden, werben um die Grünen als Bündnispartner. Deren Präferenz geht in Richtung Rot-Grün. Für einen Erfolg bei der Wahl in Niedersachsen, weiß Landeschefin Anne Kura, wird entscheidend sein, dass die Ampel und die Bundesgrünen keine Fehler machen in Berlin. Das bisherige Auftreten der grünen Minister, auch die klare, ablehnende Haltung, die sowohl Robert Habeck als auch Umweltministerin Steffi Lemke nach Bekanntwerden der Taxonomiepläne der Europäischen Union öffentlich eingenommen haben, sieht Kura als positives Signal.

"Der Vorgang zeigt, wie wichtig es ist, dass starke Grüne in der Regierung sitzen." Dennoch, das räumt Kura unverhohlen ein: "Die Ampel-Koalition muss sich erst noch bewähren." Tut sie das nicht, werden die Grünen in Niedersachsen womöglich die Ersten sein, die das zu spüren bekommen.


Quelle: welt.de