Von Wolfgang Büscher
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Stand: 08.08.2023 12:06 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten
Quelle: dpa/Paul Zinken
Vormittags schon geht es los. "Hey!" - "Alles gut?" - "Alles klar?" Es sind keine freundlichen Grüße, es sind scharfe Rufe, die sich zu einem herrischen Ton steigern können. Und sind diese Männer nicht die Herren des Parks? Sie bilden Spaliere an den Eingängen, fünf, sechs oder ein Dutzend. Wer reinwill oder raus, muss durch dieses Spalier afrikanischer Drogenhändler, die Mutter mit dem Kind an der Hand, der Jogger, die Touristinnen.
Und alle machen gute Miene, nehmen hin, was eigentlich nicht hinnehmbar ist. Offener Drogenhandel, gut organisiert, mit Anmachern, Spähern, Fahrradkurieren. Aber was sollen die Kreuzberger tun? Eben hat einer was gekauft, wohl schon zugedröhnt. Er geht auf einen Passanten los: "Du Hurensohn!" Ja, was tun? Weitergehen. Es schlucken. Wer weiß, was der Kerl in der Tasche hat. Ein normaler Morgen im Görlitzer Park in Berlin.
Quelle: pa/Juergen Held/Global Travel Images
Auf den Tag vor sechs Wochen soll eine Gruppe aus dem Dealermilieu hier eine Frau vor den Augen ihres Freundes vergewaltigt haben. Nach zwei Verdächtigen aus Somalia und Guinea wurde nun ein dritter festgenommen.
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Seit Jahren ist der Park in der Hand meist schwarzafrikanischer Dealer. Für stete Kundschaft sorgt der Party- und Drogentourismus. Die Zustände hier wurden oft beschrieben. Blutige Spritzen auf Spielplätzen, offener Konsum auch harten Stoffs, Kot im Kinderwagen. Dazu ein bunter Strauß der Gewalt - Raub, Messer, sexuelle Attacken. Die Polizei hat den Park samt Umfeld zum "kbO" erklärt, zum kriminalitätsbelasteten Ort, was verdachtsunabhängige Kontrollen erlaubt. Dennoch stieg die Zahl schwerer Straftaten stark an.
Krasser kann ein Riss kaum sein als zwischen dem Elend im Park heute und den Träumen der 1980er-Jahre, aus denen er entstand. So viel Herzblut floss. So viele Abende, Diskussionen, Papiere. Die Einladung zum Ideenwettbewerb für ein neues Kreuzberg von 1987 beschreibt das Viertel: "Ein vergessener Stadtteil, Armut, Resignation, verfallene Mietshäuser, fehlende Bildungs-, Gesundheits- und Freizeiteinrichtungen, unterschiedliche, sich sehr fremde Bevölkerungsgruppen."
Und mittendrin diese 14-Hektar-Brache voll Altöl und Schrott, das Resultat von Krieg und Abriss des Görlitzer Bahnhofs danach. Die Riesenwunde zu behandeln, aus ihr etwas kreuzbergmäßig Neues zu machen, diese Idee bezaubert viele. Eine mit dem Bezirksamt verbundene Arbeitsgemeinschaft (AG) nimmt es in die Hand. Ihre "Leitgedanken" zum neuen Park schreiben ihm geradezu heilende Kräfte zu.
Quelle: FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum/Jürgen Henschel Lizenz: RR-F
Nicht nur ethnische Spannungen im Zuwandererquartier soll der Park lösen - dem von Wäldern und Seen und dem Rest der Welt amputierten Kreuzberg soll er neuen Sinn stiften. Die Parkidee müsse das "Miteinander und Nebeneinander von unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen" aufgreifen. Mehr noch, der Park müsse "dem durch den Mauerbau entstandenen Stadttorso Kreuzberg SO 36" eine "neue stadträumliche Identifikation geben". Die Parkenthusiasten filtern aus ihrer "inszinierten (sic) Betroffenenbeteiligung" eine Vision und tippen sie auf ihr Papier, in pathetischen Großbuchstaben:
"ALTE MENSCHEN GEHEN SPAZIEREN / VATER SPIELT MIT TOCHTER FEDERBALL / EIN TÜRKISCHER CLAN LAGERT, DIE FRAUEN STRICKEN, DIE MÄNNER SPIELEN KARTEN ODER FUSSBALL, ANDERE MACHEN MUSIK / EINE WOHNGEMEINSCHAFT PICKNICKT / ANDERE WOLLEN IHRE RUHE HABEN / VIELE SONNEN SICH"
Besonnene Geister raten, die Ansprüche abzurüsten, auch das Bezirksamt. Ein Park, der von 35.000 Menschen in zehn Minuten zu Fuß erreichbar sei, könne nicht lauter Einzelbedürfnisse befriedigen, heißt es in einer Broschüre. Die Geschichte des Parks sei auch eine "von Überfrachtungen", er sei "Projektionsfläche für alle Wünsche", die im dicht bebauten Kreuzberg unerfüllbar seien. "Der Bahnhof ist tot, es lebe der Park", steht auf einem Plakat jener Jahre - ein schräger Garten Eden, errichtet auf den Trümmern der Welt von gestern. Eine "hügelige Landschaft, die Neugier darauf weckt, was sich hinter der nächsten Biegung verbirgt".
Sie sei "auf großen, weiträumigen Rasenflächen zu verwirklichen", fordert die AG 1984, mit "Mulden, Hecken und Busch- oder Baumgruppen" und "Ecken zum Zurückziehen". So kam es auch. Und doch ganz anders. Genau diese Hügel, Büsche, Hecken sind es, in denen die Dealer ihre Ware lagern. Auch Ecken zum Zurückziehen für Händler und Süchtige bietet der Park reichlich.
Quelle: pa/dpa/Christophe Gateau
Kreuzberg leidet darunter. Und leidet auch wieder nicht. Denn der Park ist eben nicht nur ein Park, er ist eine urbane Utopie. Ein Kokon schützt ihn, gewebt aus Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben auf der von Konvention befreiten Insel Berlin. Sein Milieu ist zu verliebt in das halb schräge, halb kriminelle Idyll, um am organisierten Elend dort wirklich etwas zu ändern.
Wie blind die Liebe ist, erzählt eine Reportage der "taz" 2017: "Ein schöner Herbsttag, Solo hat die Sonnenbrille aufgesetzt." Solo ist ein Parkläufer, der öfter in Reportagen auftaucht. Für den Bezirk schaut er, dass es im Park nett zugeht. Was voraussetzt, dass der Bezirk nett zu den Dealern ist. "Im Park ist alles friedlich", fährt der Bericht fort. "Auf den Wegen und Kreuzungen stehen Afrikaner in Kleingruppen zusammen."
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Solo begrüßt die Dealer mit Handschlag: "Wir sprechen uns mit Bruder an." Die Dealer hätten feste Stellplätze im Park. "In der Ecke hin zur Skalitzer Straße stünden die Araber. Dann kämen die Menschen aus Guinea-Bissau, Gambia, hinten an der Brücke Mali." Solo erklärt die ungeschriebenen Regeln: "Kein Drogenverkauf an Kinder und Jugendliche, kein aufdringliches Verkaufsverhalten." Die Käufer sollten sich selbst an die Dealer wenden. Und, na klar: "Keine Anmache von Frauen."
Schon vor 2015 schoss die Kriminalität im Park hoch. Es folgte eine Null-Toleranz-Phase unter CDU-Senatoren. Erfasste Straftaten und Verurteilungen stiegen deutlich an. "Das war polizeilich aufwendig", erinnert sich Burkard Dregger, heute innenpolitischer Sprecher der Berliner CDU, "aber es hat die Lage im Park beruhigt."
Nun eskaliert sie wieder, trotz kbO, Razzien und Polizei. Seit 2016 sei es immer schlimmer geworden, sagt Dregger. Erst der Handel mit harten Drogen, dann die Gewalt. "Es gab Messerstechereien, zunächst unter den Dealer-Gruppen selbst. Und jetzt erleben wir Gewalt gegen Dritte, besonders abscheulich sexualisierte Gewalt gegen Frauen."
Dregger hält es für möglich, "solche verkommenen, verfestigt kriminellen Orte zu drehen". Wichtig sei, unentwegten Ermittlungsdruck konsequent aufrechtzuerhalten. "Das wollen wir wieder tun." Im Koalitionsvertrag des Berliner CDU/SPD-Senats stehe die umstrittene Videoüberwachung solcher Orte. "Wir arbeiten unter meiner Federführung daran, das gesetzlich umzusetzen." Konsequentes Durchgreifen des Rechtsstaats sei immer richtig. "Alles andere ist Kapitulation."
Quelle: dpa/Paul Zinken
Vom Argument der Gegner von Videoüberwachung, diese tauge nur zur Aufklärung, aber nicht zur Prävention, hält Dregger nichts: "Natürlich schreckt Video ab. Ich kann mir keine Vergewaltigung oder eine andere Tat vor laufender Überwachungskamera vorstellen."
Die jüngste Vergewaltigung wurde erst bekannt, als WELT darüber berichtete. Auch über vorherige Taten hatte Berlins Polizei nicht informiert. Dregger will das ändern. Er möchte der Polizei klarere Vorgaben an die Hand geben, so etwas zu kommunizieren, "ohne Schaum vorm Mund und natürlich nicht bei Ladendiebstahl. In so schweren Fällen wie Vergewaltigungen im Park vor der Haustür haben Frauen ein Recht, die Fakten zu kennen."
Man habe einen Runden Tisch organisiert und einiges getan: Parkmanagement und Parkläufer eingeführt, die Reinigung des Parks, städtebauliche Maßnahmen in Abstimmung mit der Polizei, die Belebung des Parks durch kulturelle und Sportangebote, Gesundheitszentren mit Drogenkonsumangebot sowie aufsuchende Sozialarbeit.