Gewalt in Amsterdam: Die "Judenjagd" und ihre Vorgeschichte

Von Thomas Gutschker
Politischer Korrespondent für die Europäische Union, die Nato und die Benelux-Länder mit Sitz in Brüssel.

10.11.2024, 20:55 Lesezeit: 5 Min.

Die Gewalt gegen israelische Fußballfans in Amsterdam hat die Welt aufgeschreckt. Aber sie kam nicht aus heiterem Himmel: Anhänger von Maccabi Tel Aviv hatten mit Gesängen provoziert und ein Taxi angegriffen.

Groß war das Entsetzen, als sich am Freitag die Bilder und Nachrichten aus Amsterdam verbreiteten: Vermummte junge Männer, die Jagd auf israelische Fußballfans machten, sie niederschlugen und auf sie eintraten. Von einer "pechschwarzen Nacht" sprach die Bürgermeisterin der Stadt, die Grünenpolitikerin Femke Halsema. "Das ist einfach antisemitische Gewalt gegen Israelis", befand Ministerpräsident Dick Schoof und verließ vorzeitig ein EU-Treffen in Budapest. Politiker aus aller Welt verurteilten die Übergriffe. Der amerikanische Präsident Joe Biden fühlte sich erinnert an "dunkle Momente in der Geschichte, als Juden verfolgt wurden".

Am Sonntagabend forderte das Büro von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu mit Verweis auf geplante Attacken seine Bürger auf, Sportveranstaltungen mit israelischer Beteiligung im Ausland in der kommenden Woche zu meiden. Netanjahu selbst verwies mit Blick auf die Gewalt in Amsterdam explizit auf die "Kristallnacht", die vom NS-Regime gesteuerten Judenpogrome von 1938, die sich gerade jährten.

So schien die Deutung schnell klar zu sein: Arabischstämmige Männer fielen über wehrlose und friedliche israelische Fußballfans her. Das alles gab es natürlich auch, aber es war nicht das vollständige Bild. Mit etwas Abstand wird nun klar, dass der Gewaltausbruch aus der Nacht von Donnerstag auf Freitag nicht aus heiterem Himmel kam. Er hatte vielmehr eine Vorgeschichte, auf die der Chef der Amsterdamer Polizei, Peter Holla, schon am Freitagmittag hinwies. Die begann mit gewaltsamen Übergriffen von Anhängern des Fußballclubs Maccabi Tel Aviv, die zum Champions-League-Spiel ihrer Mannschaft gegen Ajax Amsterdam angereist waren. "Sie rissen eine Flagge von einem Haus am Rokin, und sie zerstörten ein Taxi", sagte Holla in einer Pressekonferenz. "Auf dem Dam-Platz wurde eine palästinensische Flagge angezündet."

"Fuck you, Palestine" und "Tod den Arabern"

Auch diese Vorfälle wurden auf Videos festgehalten, die in sozialen Netzwerken kursieren. Man sieht dort etwa, wie ein Mann eine palästinensische Fahne von einer Fassade entfernt, während die Umstehenden "Fuck you, Palestine" intonieren. Ein Polizeiauto fährt an der Szene vorbei, ohne anzuhalten. Ein weiteres Video zeigt, wie ein Mann mit einer Eisenkette auf ein Auto zugeht und darauf einschlägt. Der Fahrer, aus dessen Perspektive es aufgenommen wurde, schimpft auf Arabisch und fährt eilends davon. Das soll der Übergriff auf ein Taxi sein. Angeblich soll es auch einen Angriff auf einen Taxifahrer gegeben haben, über den der Sender RTL am Mittwochabend berichtete. Dazu zeigte er ein Video, in dem mehrere Unbekannte eine Person zu Boden stoßen und treten. Ob das Maccabi-Anhänger waren, ist nicht zu erkennen; der Polizeichef erwähnte diesen Vorfall nicht.

Der Übergriff auf ein Taxi führte auf jeden Fall zu einer ersten Eskalation. Mehrere Fahrer in der Umgebung - die meisten dürften ebenfalls arabischen Ursprungs gewesen sein - verfolgten daraufhin Maccabi-Anhänger, die zum Holland-Casino liefen, wo sich insgesamt 400 Fans aufhielten. "Die Polizei eskortierte die Fans sicher aus dem Casino", sagte Polizeichef Holla, um 3.30 Uhr in der Nacht auf Donnerstag sei dann Ruhe eingekehrt. Die Zeitung "De Volkskrant" berichtete von Chats in propalästinensischen App-Gruppen, in denen dazu aufgerufen wurde, wegen der "israelischen Hooligans" keine palästinensischen Erkennungszeichen zu tragen und lieber zu Hause zu bleiben. "Seid ihr körperlich und geistig darauf vorbereitet, es mit einer Menge Hooligans aufzunehmen?", hieß es in einem oft geteilten Eintrag. Wer daheim bleibe, sei kein weniger guter Aktivist.

Vor dem Spiel versammelten sich Maccabi-Anhänger am Donnerstagnachmittag auf dem Dam-Platz. Auch davon gibt es Videos. Sie sangen abermals "Fuck you, Palestine", zeigten Transparente mit israelischen Kriegshelden und zündeten Feuerwerk. Wer sich dort traf, stand auf den vielen Aufklebern, die am Ort hinterlassen wurden: die "Maccabi Fanatics", die Ultras des Clubs. Auf dem Weg zur U-Bahn riefen sie "Tod den Arabern" und einen Schlachtruf, mit dem sie nicht ihr Team, sondern ihre Armee anfeuerten. In der U-Bahn sangen sie ein Lied mit der Zeile: "Es gibt keine Schulen mehr in Gaza, alle Kinder sind tot. Olé, olé, olé."

Im Stadion selbst wurden die Fans beider Mannschaften von der Polizei getrennt, sodass es dort ruhig blieb. Allerdings fiel auf, dass die knapp 3000 Maccabi-Anhänger eine Schweigeminute für die Opfer der Überschwemmungen in Spanien - einem israelkritischen Land - mit Pfiffen störten. Zu der Explosion der Gewalt gegen die Israelis kam es dann nach dem Spiel, das Ajax Amsterdam mit 5:0 gewann. In der Innenstadt wurden die israelischen Fans von Schlägertrupps erwartet, die sie mit Überraschungsangriffen auseinandertrieben, um sich auf einzelne Opfer zu stürzen und diese brutal zusammenzuschlagen. Nun war jeder ein Ziel, der als Maccabi-Anhänger zu erkennen war. Wer einen nichtisraelischen Pass vorweisen konnte, wurde verschont. Diese Bilder gingen dann um die Welt.

Für Geert Wilders ging Polizei zu lasch vor

Nach Angaben des Polizeichefs wurden 20 bis 30 Israelis mit leichten Verletzungen ambulant versorgt. Fünf Menschen wurden ins Krankenhaus gebracht und nach wenigen Stunden wieder entlassen. Berichte, dass Menschen entführt worden seien, bestätigten sich nicht. Alle kehrten bis Sonntag nach Israel zurück, auch mit vier israelischen Sonderflügen. Die Polizei nahm 62 Personen wegen Gewalt, Vandalismus und Störung der öffentlichen Ordnung fest, allerdings niemanden während der Angriffe auf die israelischen Fans. Die Polizei bildete ein Sonderermittlungsteam, das Aufnahmen von Überwachungskameras auswertet, um Verdächtige zu identifizieren. Eine weitere Person wurde daraufhin am Freitagabend festgenommen. Die Bürger wurden aufgerufen, relevantes Material zur Verfügung zu stellen. Am Sonntag befanden sich insgesamt noch vier Menschen in Untersuchungshaft, darunter zwei Minderjährige, sie werden Anfang der Woche einem Untersuchungsrichter vorgeführt.

Justizminister David van Weel teilte dem Parlament mit, dass die Behörden gebeten worden waren, die Auswirkungen des Fußballspiels auf eine Veranstaltung zum Gedenken an die Judenpogrome zu prüfen - dies hatte offenbar keine konkreten Verdachtsmomente ergeben. Die Polizei selbst sei mit 800 Beamten im Einsatz gewesen, darunter berittene Einsatzstaffeln, Hundeführer und ein Wasserwerfer. Polizeichef Holla sprach von einem der bisher größten Einätze überhaupt. Man sei darauf eingestellt gewesen, "dass internationale Spannungen zu Gewalt führen könnten". Allerdings sei es für die Polizei äußerst schwierig, gegen derartige Überraschungsangriffe vorzugehen.

Die Aufklärung des Gewaltausbruchs wird in dieser Woche sowohl den Stadtrat von Amsterdam als auch das Parlament beschäftigen, wo sich Ministerpräsident Schoof den Fragen der Abgeordneten stellen muss. Seine eigentlich geplante Teilnahme an der Klimakonferenz in Baku sagte er ab. Die lokalen Behörden leiteten eine unabhängige Untersuchung ein.

Einer erhob indes schon am Freitag schwere Vorwürfe: der Rechtspopulist Geert Wilders, dessen Partei die Regierung mit drei weiteren Partnern trägt. Wilders bemängelte den "mangelnden Schutz" der Israelis und ein zu lasches Auftreten der Polizei. Durch die "Judenjagd" sah er sich in seinem tief sitzenden Hass auf Muslime bestätigt. Er empfing den israelischen Außenminister Gideon Saar am Flughafen Schiphol - als sei er selbst der Regierungschef. Ministerpräsident und Außenminister waren da noch nicht zurückgekehrt. Die Vorgeschichte des Gewaltausbruchs erwähnte er mit keinem Wort. "Ich werde alles tun, um Juden zu schützen und islamische Radikale zu stoppen und auszuweisen", teilte Wilders nach einem Telefonat mit Netanjahu mit. Tatsächlich dürften die meisten Verdächtigen allerdings niederländische Staatsangehörige sein.


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