Jonas Roth 08.09.2022, 16.52 Uhr
Das verwackelte Video zeigt eine - vermeintlich - schreckliche Szenerie: Ein ukrainischer Soldat liegt regungslos mit dem Gesicht nach unten im Sand, seine Waffe neben sich. Die Kamera schwenkt auf einen zweiten Kämpfer, der rücklings auf einem Baumstrunk liegt. Insgesamt zeigt das Filmchen fünf Soldaten, die an diesem Ort offenbar ihr Leben verloren haben. Es scheint sich um ein Flussufer zu handeln, allerdings bleibt unklar, wo die Bilder genau aufgenommen wurden.
Anfang dieser Woche ist das Video im Telegram-Kanal "Posdnjakow 3.0" aufgetaucht. 125.000 Personen haben den Kanal abonniert, der von Wladislaw Posdnjakow betrieben wird, einem prorussischen Propagandisten und glühenden Unterstützer der russischen Invasion in der Ukraine. Er teilt mit, die Soldaten seien bei einem versuchten Vorstoss auf das Atomkraftwerk Saporischja in der Stadt Enerhodar ums Leben gekommen. Kurz zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium verlauten lassen, man habe einen Angriff von 60 ukrainischen Soldaten zurückgeschlagen, die mit Booten den Fluss Dnipro bei Enerhodar überquert hätten.
Bei genauerer Betrachtung des Videos fallen allerdings einige Elemente auf, die stutzig machen: So ist auf den Bildern kein Blut zu sehen; die Uniformen der ukrainischen Soldaten sind sauber. Auch die Umgebung weist keine Spuren eines Kampfes auf, Patronenhülsen etwa oder Einschusslöcher sind nicht zu erkennen.
Was es mit dem Filmchen wirklich auf sich hat, klärte sich einen Tag später, am 6. September. Auf einem ukrainischen Telegram-Kanal tauchte dasselbe Video in voller Länge auf. Darin hört man, wie der Filmende ein Kommando gibt, worauf die "toten" Soldaten wieder aufstehen und sich lachend den Sand von der Uniform klopfen. Offensichtlich hatten sich die Ukrainer einen Streich erlaubt, indem sie eine gekürzte Version des Videos im Netz verbreiteten und damit die Russen glauben liessen, es handle sich um gefallene Kämpfer.
Auf Kommando steht er auf und lacht.
Screenshot Telegram
Screenshot Telegram
Auch der düpierte Propagandist Posdnjakow wurde von hämischen Kommentatoren auf die Fälschung aufmerksam gemacht und reagierte mit einer verärgerten Nachricht in seinem Kanal. Die Ukrainer würden ständig Fälschungen verbreiten, schreibt er darin. Er selber habe seit dem 24. Februar nur ein bis zwei Mal einen Fehler gemacht, aber jetzt versuche diese "Nation von Prostituierten" einen Sieg für sich zu beanspruchen. Er kündigte an, die "Schweine" aus seinem Kanal verbannen zu wollen.
Als der amerikanische Journalist Aric Toler vom Recherchenetzwerk Bellingcat den gelungenen Soldatenstreich wenig später auf Twitter publik machte, sperrte Posdnjakow seinen Kanal. Bis heute ist sein Telegram-Auftritt nicht mehr öffentlich einsehbar. Bei dem Russen handelt es sich um einen notorischen Hetzer, der schon vor dem Krieg zweifelhafte Bekanntheit erlangt hatte, weil er mit seiner Gruppe "Muschskoje Gosudarstwo" (Männlicher Staat) Hasskampagnen gegen dunkelhäutige Personen gestartet hatte.
Ob der letztlich harmlose Streich der Ukrainer angesichts von Tausenden Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Konflikt wirklich gefallen sind, taktvoll ist, darüber lässt sich wohl streiten. Darüber hinaus verweist das Video auf ein makabres Phänomen, das seit Beginn des Krieges in der Ukraine immer ausgeprägter zu beobachten ist: In Telegram-Kanälen und auf Twitter teilen sowohl proukrainische als auch prorussische Nutzer massenweise unzensierte Bilder von toten Kämpfern, die von der jeweiligen Seite als Kriegstrophäen gefeiert werden.
Experten sind sich uneinig, ob das Verbreiten solcher Inhalte strafbar ist oder gar ein Kriegsverbrechen darstellen könnte. Bereits fordern einige eine Überarbeitung der Genfer Konvention, um sie an die neuen Herausforderungen des digitalen Zeitalters und der sozialen Netzwerke anzupassen.