Von Axel Spilcker 04.09.19
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Gelsenkirchen -
Der Zeuge wird mit Handschellen aus der JVA Bielefeld in den Jugendschöffengerichtssaal 212 in Gelsenkirchen gebracht. Mohammad S., 30, ein syrischer Flüchtling, sitzt seit geraumer Zeit wegen zahlreicher Gewaltdelikte ein. Dieses Mal soll er aber als Opfer einer brutalen Attacke aussagen.
Die Geschichte, die an jenem 7. August verhandelt wird, sieht nach einer typischen Auseinandersetzung im Unterweltmilieu aus. Auf der Anklagebank sitzen gleich drei Mitglieder führender kurdisch-libanesischer Clans.
Der Haupttäter gehört zur Miri-Sippe, einem bundesweit verzweigten Familien-Netzwerk, der zweite zum Khodr-Clan, immerhin die Nummer 4 im NRW-Ranking des Landeskriminalamts (LKA). Der dritte Angeschuldigte zählt zum mächtigsten Familien-Syndikat an Rhein und Ruhr: dem Clan der Omeirats.
In dem Prozess geht es unter anderem um den mutmaßlichen Angriff auf den Zeugen und seinen Bruder, der gut zwei Jahre zurückliegt. Exakt 28 Monate hat es gedauert, bis der Fall wegen gefährlicher Körperverletzung vor Gericht landete.
Ein Messer und eine Pistole sollen im Spiel gewesen sein, es wurde geprügelt und geschossen. Angeblich wollten die Angeklagten die Ehre einer jungen Frau wiederherstellen, die zu einer der Familien gehört und die Kontakt zu den Syrern gehabt haben soll.
Der Zeuge jedoch spricht kaum Deutsch. Ein Dolmetscher übersetzt im Gerichtssaal aus dem Arabischen. Mohammad S. verwickelt sich zunehmend in Widersprüche. Liegt es daran, dass er den Tatablauf nach zwei Jahren nicht mehr genau erinnert oder hat er bei seiner ersten Vernehmung durch die Polizei gelogen?
Als die Richterin zum wiederholten Mal wissen will, was genau sich abgespielt hat, antwortet der Zeuge endlich. Sie müsse doch wissen, was das für Leute seien, dort auf der Anklagebank. "Wenn ich rauskomme, dann kommen die wieder."
Die Angeklagten schauen sich feixend an. Als der Zeuge den Saal verlässt und wüste Beschimpfungen ausstößt, brüllt Mehmet Omeirat (Vorname geändert) ihm auf Arabisch hinterher: "Wenn Du raust bist, kriege ich Deine Mutter."
Justizalltag in NRW. Fälle wie diese spielen sich zu Dutzenden an den hiesigen Gerichten ab. Seit etwa die Staatsanwaltschaft Duisburg zwei Spezialisten im Kampf gegen die Clan-Kriminalität einsetzte, wurden seit Sommer 2018 bereits 610 Verfahren angestoßen. Das Landeskriminalamt (LKA) NRW hat zwischen 2016 und 2018 allein 14.225 Straftaten aufgelistet.
An der Spitze der Statistik rangiert der weit verzweigte Omeirat-Clan. Wie bei den meisten anderen Familien auch, handelt es sich bei den Angehörigen um Mhallamiye-Kurden, die in den 1920er Jahren vor den Repressalien des Atatürk-Regimes aus der Türkei in den Libanon flüchteten. In den 1980er Jahren flohen die Sippen dann erneut, diesmal vor dem Bürgerkrieg in Beirut nach Deutschland.
Viele von ihnen wurden anfangs als Staatenlose behandelt. Geduldet zwar, mangels Erlaubnis durften sie hierzulande allerdings nicht arbeiten. Also nutzten sie ihre Familien-Netzwerke für illegale Geschäfte.
Die Bundespolizei hatte den Boss einer Schleuserbande vor knapp dreieinhalb Jahren in einer aufwendigen Aktion im Stadtteil Altenessen festgenommen. Ein Hubschrauber überwachte das Geschehen von der Luft aus, um etwaige Zusammenrottungen von Familienmitgliedern rechtzeitig an die Einsatzkräfte zu melden.
Ein Trupp der Anti-Terror-Einheit GSG9 setzte den mutmaßlichen Bandenchef fest. Bei der Razzia fanden sich salafistische DVDs, sieben Macheten, Schwerter, Messer, Munition für Handfeuerwaffen, diverse Ausweis- und Passdokumente sowie illegale Böller mit gut fünf Kilogramm Sprengstoff.
Clan-Chef Mohammed R. schilderte vor Gericht, wie einfach es war, Flüchtlinge aus Syrien und dem Libanon nach Deutschland zu schleusen. Per WhatsApp schickten die "Kunden" ihre Fotos an R. und seine Bande.
Die Aufnahmen mit Reisepassdaten genügten, um einen Tunesier in Essen-Altenessen zu beauftragen, falsche Aufenthaltsgenehmigungen zu erstellen. Am Ende klebte die Bande Vermerke in die Pässe und stempelte sie mit einem gestohlenen Behördenstempel aus Düsseldorf oder Bochum ab.
Für die Flugreise mit den fingierten Papieren von Beirut oder der Türkei kassierte die Gruppierung laut Anklage bis zu 10.000 Euro pro Person. Von einer zehnköpfigen libanesischen Familie, die schließlich in Malaysia strandete, verlangten die Schleuser 90.000 Dollar - angeblich um einen deutschen Botschafter zu bestechen. Im Gegenzug für ein Geständnis von R. verständigten sich Anklage und Verteidigung zu Prozessbeginn auf ein Strafmaß von dreieinhalb bis vier Jahren Haft.
Allerdings beschäftigte sich die Clan-Größe nicht nur mit Schleusungen. Zuvor war Mohamad R. bereits zu anderthalb Jahren Gefängnis durch das Amtsgericht Essen verurteilt worden, weil er eine Tonne Wasserpfeifentabak unversteuert auf dem Schwarzmarkt verkauft hatte.
LKA-Erkenntnissen zufolge gilt Essen als absolute Hochburg der kriminellen Großfamilien. Von 2016 bis 2018 spielte sich jede fünfte Clan-Straftat in der Ruhrmetropole ab. Dahinter folgen Gelsenkirchen und Recklinghausen.
Köln liegt immerhin auf Rang sieben im Zehn-Städte-Vergleich der Landesbehörde. Zu den Gründen meint Thomas Jungbluth, Chef der LKA-Abteilung für Organisierte Kriminalität: "Köln hat eine gewisse Klientel, es gibt viele Shisha-Bars und sonstige milieutypische Gastronomie."
Dort finde man etliche Besitzer mit Clan-Bezügen, ergänzt der Leitende Kriminaldirektor. Allerdings stehe die Rheinmetropole im Clankriminalitäts-Ranking nicht so weit oben wie das Ruhrgebiet.
Zurück nach Gelsenkirchen, in den Gerichtssaal 212. Die Verhandlung gegen die drei Clan-Mitglieder endet mit 80 Sozialstunden für einen der beiden Hauptangeklagten wegen gemeinschaftlich begangener gefährlicher Körperverletzung.
Sein Komplize muss 400 Euro Geldstrafe an das Mädchenzentrum Gelsenkirchen überweisen. Mehmet Omeirat kassiert 30 Sozialstunden, weil er einen Wettbürobesitzer provoziert und dann auf ihn eingeschlagen hatte. Dabei soll der junge Heißsporn gedroht haben: "So spricht man nicht mit einem Omeirat." Alltag im Clanland.