Gastbeitrag von Gabor Steingart Von der Leyen hat siebenfach versagt - und schielt trotzdem auf nächsten Posten

Gastautor Gabor Steingart (Berlin)

Freitag, 23.06.2023, 14:32

Ursula von der Leyens Amtszeit ist geprägt von Hinterzimmer-Deals und Missmanagement. Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin von Macrons und Merkels Gnaden hat in sieben entscheidenden Politikfeldern versagt. Trotzdem liebäugelt die CDU-Politikerin schon mit dem nächsten Spitzenposten.

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Von der Leyen kann sich bequem bei Scholz und Merz unterhaken

In den Sonntagsreden der Politiker ist oft von den europäischen Werten die Rede. Die Europäische Idee stehe für "den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, den Kampf für Werte und Freiheit, das Ringen für Frieden und Einheit", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erst kürzlich anlässlich der Verleihung des Karlspreises an den ukrainischen Präsidenten Selenskyj.

Demokratie zählt offenbar nicht zu diesen europäischen Werten. Denn die EU-Präsidentin selbst ist nicht einem demokratischen Wahlakt, sondern einem Hinterzimmer-Deal von Macron und Merkel entsprungen:

Von der Leyens Amtszeit geprägt von Missmanagement

Dabei ist ihre nunmehr dreijährige Amtszeit geprägt von Missmanagement und der fortgesetzten Verletzung europäischer Interessen. Um die Statik der deutsch-französischen Verabredung nicht zum Einsturz zu bringen, soll darüber nach Möglichkeit nicht gesprochen werden.

Kanzler Scholz und Oppositionsführer Merz haben in der Europapolitik de facto einen Nichtangriffspakt geschlossen. Für Scholz ist sie eine wichtige Partnerin, für Merz eine Parteifreundin. So bleibt das siebenfache Versagen der Ursula von der Leyen vorsätzlich unbemerkt:

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Problemfall Industriepolitik

Auf die Ankündigung folgt jetzt der Rückzug. Europa wird den von ihr versprochenen Souveränitätsfonds als Antwort auf den Inflation Reduction Act (IRA) - das mit 738 Milliarden Dollar ausgestattete Staatsprogramm zur Reindustrialisierung der USA - nicht in Kraft setzen.

Kleinlaut wurde die vollmundige Ankündigung gestern zurückgezogen. Eine Begründung der Kommissionspräsidentin blieb aus. EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn erklärte, man wolle sich jetzt einfach nicht verzetteln: "Wir müssen das Rad nicht neu erfinden."

Tatenlos schaut Europa zu, wie unser wichtigster Verbündeter Schlüsselindustrien gezielt abwirbt. Die politische Energie der Ursula von der Leyen in dieser Frage scheint wie erloschen.

Problemfall Haushaltspolitik

Derweil in allen Nationalstaaten gespart werden muss, will die EU-Kommission ihr Budget für die kommenden Jahre massiv erweitern - aber eben nicht für eine industrielle Kraftanstrengung, sondern für das armselige Ziel, dass Brüssel bleiben darf, wie Brüssel immer war: umständlich, bürokratisch, kostspielig.

66 Milliarden Euro zusätzlich forderte sie gestern von den 27 Mitgliedsstaaten. Eigentlich hatte man sich auf den gemeinsamen Finanzrahmen von rund 1,1 Billionen Euro für die Jahre 2021 bis 2027 geeinigt. Doch der reicht nicht mehr, heißt es jetzt. Migration, Ukraine, Klima, was man so sagt, wenn man mehr Geld eintreiben möchte.

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Problemfall Ordnungspolitik

Die Regeln für eine solide Finanzpolitik werden mit dem Segen der EU-Kommission in geradezu obszöner Weise missachtet. Nur neun Länder hielten sich in 2022 an das Kriterium, dass die Verschuldung maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. Der französische Finanzminister Bruno Le Maire bezeichnet die EU-Schuldengrenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung eines Mitgliedslandes nun ohne jede Rücksprache mit seinen Partnern als "obsolet". Niemand in Brüssel widerspricht.

Im Gegenteil wird mit ihrer Unterstützung daran gebastelt, die Maastricht-Kriterien dauerhaft aufzuweichen oder besser, gleich ganz zu suspendieren. Statt 60 Prozent Verschuldung ist für hochverschuldete Länder jetzt auch 90 Prozent in Ordnung, solange glaubhaft vermittelt werden kann, dass man an einer Senkung der Schulden arbeitet.

Problemfall Menschenrechte

In der Migrationspolitik werden die europäischen Werte nicht nur verletzt, sondern planmäßig und seit Jahren ignoriert. An den Küsten Griechenlands, Spaniens und Italiens herrschen menschenunwürdige Zustände in überfüllten Flüchtlingscamps. Der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagt: "Die Bedingungen auf den Inseln sind erschreckend und beschämend zugleich."

Vor den Küsten Europas sind seit Amtsantritt von Ursula von der Leyen im Dezember 2019 über 7.000 Menschen - darunter 360 Kinder - ertrunken. Die jetzt geplanten Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen werden von dem Verdacht überschattet, dass zu wenige Einrichtungen mit zu geringer Personalausstattung die humanitäre Not nicht mildern, sondern nur neu illustrieren.

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Problemfall Klimapolitik

Es gelingt der EU-Präsidentin nicht, eine einheitliche Energie-Strategie in Europa zu verabreden und zu exekutieren. In Polen, Tschechien und Griechenland setzt man vor allem auf die Braunkohle. In Belgien, Finnland und Frankreich wird die Kernenergie ausgebaut und nicht Wind und Solar.

Nur die europäischen Vorzeigekinder Schweden, Norwegen und Island vertrauen konsequent auf erneuerbare Energien. Insgesamt hat sich der CO2 Ausstoß seit dem Amtsantritt von Ursula von der Leyen vor allem coronabedingt verringert und ist im letzten gemessenen Jahr - von 2020 auf 2021 - wieder angestiegen.

Problemfall Außenpolitik

Weder in der Ukraine-Politik noch gegenüber China schafft sie es, Europas Gewicht auf der Welt zu bündeln. Ohne die USA und Joe Biden wäre die Ukraine heute ein Teil des russischen Imperiums. Nur dank der schnellen und massiven Waffenlieferungen aus Washington konnte Selenskyj wenigstens das schnelle Vorrücken der russischen Armee verhindern. Die Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft kam in ihrer Amtszeit nicht voran.

Problemfall Reformstau

Kein einziges der großen institutionellen Reformvorhaben wurde in ihrer Amtszeit angepackt. Weiterhin gilt das lähmende Einstimmigkeitsprinzip. Auch auf die von Macron geforderte "europäische reglementarische Pause" ging sie nicht ein. Die einzige Neuerung ihrer Amtszeit ist eine eigene europäische Schuldenaufnahme - die sich unter Missachtung des nationalen Budgetrechts freien Zugang zum globalen Kapitalmarkt verschafft hat.

Fazit: In einer lebendigen Demokratie würde eine Kommissionspräsidentin mit dieser Bilanz vom Volk mutmaßlich nicht verlängert. Vielleicht auch deshalb interessiert sich Ursula von der Leyen für den im September freiwerdenden Job des NATO-Generalsekretärs. Der französische Dramatiker Eugène Ionesco hat es geahnt: "Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht."


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