Gastautor Gabor Steingart (Berlin)
Freitag, 13.10.2023, 11:21
Wer zu lange Fernsehen schaut oder zu intensiv die Zeitungen studiert, könnte das Gefühl gewinnen, die Welt steht am Abgrund. "Bayern bleibt Bayern, auch wenn die Welt langsam verrückt wird", griff Markus Söder am Wahlabend genau diese Stimmung auf.
Doch die Welt um uns herum ist keineswegs verrückt, sondern nur erfolgreicher als wir, womit sich ein Teil der deutschen Schmerzen erklärt. Selbst unser Nachbarland Polen - von vielen mitleidig belächelt - hat sich im Schatten unserer Wahrnehmung prächtig entwickelt.
Selbst wenn für den kommenden Wahlsonntag ein Regierungswechsel denkbar oder vielleicht sogar wahrscheinlich ist - von einer nationalkonservativen Regierung zu einer liberal-bürgerlichen Dreier-Formation -, steht Polen keineswegs vor disruptiven Veränderungen, sondern blickt auf eine Phase hoher Prosperität, die sich fortsetzen dürfte. Die Turbulenzen - mit denen sich die Medien auch jetzt wieder befassen - finden im politischen Überbau statt, um mit Karl Marx zu sprechen. Aber die Basis der Volkswirtschaft ist von beeindruckender Stabilität.
Wenn am kommenden Sonntag gewählt wird, droht der seit acht Jahren regierenden rechts-konservativen Prawo i Sprawiedliwo?? (PiS)-Partei und dessen Vorsitzendem Jaros?aw Kaczy?ski der Machtverlust. Eine liberale Bürger-Koalition um den ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk schickt sich an, die Machtverhältnisse in unserem Nachbarland zu drehen. Auch das muss kein Nachteil für Deutschland sein.
Die Opposition hat es geschafft, ihre Anhänger zu mobilisieren, weshalb die regierende PiS-Partei den ehemaligen Ministerpräsidenten, zwischenzeitlichen EU-Ratspräsidenten und jetzigen Herausforderer Donald Tusk als "Dieb", "Feind der Nation" und "Mann, der in sein Deutschland gehen soll" diffamiert.
Während die deutschen Medien von einer "Richtungsentscheidung für Europa" (rbb) sprechen oder mit "Es geht um alles" (SWR) die Wahl künstlich überhöhen, hat sich die Wirtschaft von diesen politischen Kapriolen in Wahrheit entkoppelt.
Christopher Fuß - Polen-Korrespondent bei Germany Trade Invest - bleibt, was die ökonomischen Aussichten angeht, gelassen: "Egal ob linke, liberale oder konservative Regierungen in Polen an der Macht waren, ist die Wirtschaft immer gewachsen. Das stimmt mich in Bezug auf die Wirtschaftsaussichten auch für die aktuelle Wahl optimistisch."
Für ausländische Firmen ist Polen aufgrund seiner zentralen Lage und seiner gut ausgebildeten Fachkräfte eine verlässliche Heimat. So errichten viele Automobilhersteller die Batterieproduktion für ihre Elektroautos im Süden Polens. Internationale Konzerne wie Bosch, Miele und Samsung unterhalten ebenfalls Standorte in Polen.
Die Innenpolitik und die umstrittene polnische Justizreform, die zum Einfrieren der EU-Gelder führte, haben keine Auswirkungen auf unternehmerische Entscheidungen. Die ausländischen Direktinvestitionen nahmen 2022 um 23 Prozent zu und betrugen laut der polnischen Nationalbank mehr als 42 Milliarden Euro - 5 Milliarden Euro kamen dabei aus Deutschland. Mit 28 Prozent der polnischen Exporte und einem Handelsvolumen von 168 Milliarden Euro ist unser Land der wichtigste Handelspartner.
Und das obwohl sich polnische Regierungsmitglieder immer wieder kritisch gegenüber Deutschland äußern. Im Jahr 2021 beschuldigte etwa PiS-Chef Jaros?aw Kaczy?ski Deutschland, die EU in ein "deutsches Viertes Reich" umgestalten zu wollen. Die aggressive Rhetorik verfängt aber nicht. Dr. Lars Gutheil, Leiter der AHK Polen, sagt:
"Die Anti-Deutschland-Rhetorik ist Innenpolitik und beeinflusst nicht das Tagesgeschäft deutscher Unternehmer."
Die ausländischen Investitionen steigen auch deshalb, weil Russland als alternativer Investitionsstandort wegfällt. Piotr Arak, Leiter des polnischen Wirtschaftsinstituts (PIE), sagte dem Handelsblatt:
"Derzeit entscheidet sich fast jedes vierte europäische Unternehmen bei Produktionsverlagerungen für Polen."
Und das Land, das nach Deutschland am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, konnte die Krise als Chance nutzen und gezielt Arbeitskräfte rekrutieren. Knut Abraham, CDU-Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, war vor Kurzem in Warschau. Er sagt:
"Fachkräfte aus der Ukraine hat man in Polen besser integriert als bei uns, weil sie gezielt angeworben wurden und es geringere sprachliche und kulturelle Hürden gibt."
Bei Deutschland denkt man an Siemens, bei Frankreich an Peugeot und bei der Schweiz an Nestlé. Wenn man ein beliebiges polnisches Unternehmen aufzählen will, muss man länger überlegen. Und das hat einen Grund.
"Polens Wirtschaft ist sehr stark diversifiziert. Es gibt nicht den einen Robert-Lewandowski-Sektor, von dem das Land ökonomisch abhängig ist", sagt Dr. Lars Gutheil.
Die Volkswirtschaft insgesamt weist einen Industriesektor in der Größenordnung von 56 Prozent des Bruttosozialprodukts auf und verfügt über einen Dienstleistungssektor, der 30 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmacht. Polen-Korrespondent Christopher Fuß fasst zusammen:
"Wenn die aktuell blockierten EU-Gelder freigegeben werden und die Konsumausgaben anziehen, wird die Wirtschaft weiter wachsen."
Fazit: Der polnische Werftarbeiterführer und spätere Präsident Lech Walesa hat einmal gesagt:
"Freiheit bedeutet nicht die Abwesenheit von Beschränkungen, sondern die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und seine Träume zu verwirklichen."
Polen lebt diese Maxime. Das Land hat am Fuße dieses Wahlsonntags nicht Mitleid, sondern Bewunderung verdient. Fast ist es, als wollte man uns zurufen: Fortschritt ist machbar, Herr Nachbar.