Gastautor Gabor Steingart (Berlin)
Donnerstag, 06.06.2024, 07:50
Fast überall auf der Welt müssen die Regierungschefs um ihre Wiederwahl fürchten: in Washington, London, Paris und in Berlin sowieso. Die Gründe für ihren oft drastischen Popularitätsverlust binnen kürzester Zeit sind nicht landesspezifisch, sondern klassenbedingt.
Denn: Kaum im Regierungsamt angekommen, umgeben sich die Staats- und Regierungschefs mit einer Armada von Demoskopen, Stilberatern und Kommunikationsexperten, die sie in Windeseile von jenen Menschen entfernen, die sie gewählt und früher auch gemocht haben.
Die Versuchung ist groß, das Regierungsamt samt seiner Statussymbole - gepanzerte Limousinen, Bodyguards und Regierungsjet - nebst der ikonischen Architektur der Amtssitze (Élysée-Palast, Weißes Haus, Bundeskanzleramt, Downing Street No. 10) für die eigene Inszenierung zu nutzen. Schnell dominiert die Inszenierung den Inhalt und es kommt zur Heroisierung von mittelmäßiger Politik.
Feudalherr statt Arbeiterführer: Plötzlich tritt der Kanzler der Arbeiterpartei SPD vor der Kulisse edler Schlösser auf. Olaf Scholz trifft man nicht mehr am Hochofen, bei den Menschen auf dem Großmarkt oder im Kreis der Hafenarbeiter. Stattdessen posiert er jetzt mit seinen Staatsgästen auf den Stufen von Schloss Meseberg, dem Gästehaus der Bundesregierung.
Der einzige Arbeiter, der einem hier begegnet, ist der Gärtner bei der Rasen-Maniküre. Das Volk - also der eigentliche Arbeitgeber des Regierungschefs - ist plötzlich ausgesperrt. Kulturell, habituell und tatsächlich. Der Meister der imperialen Darbietung ist der ehemalige Sozialist und spätere Investmentbanker Emmanuel Macron, der seine Auftritte am liebsten nach Versailles verlegt. Da, wo einst Sonnenkönig Ludwig XIV. residierte, hält er seine großen Reden, die er nie an die kleinen Leute, sondern immer an die Historiker adressiert. Er will jetzt nicht geliebt, er will jetzt verehrt werden. Sein Sehnsuchtsort ist nicht das Arbeiterviertel von Paris, sondern das Geschichtsbuch.
Die meisten Regierungspolitiker glauben, dass sie ihre alte, oft erdige, zuweilen sogar deftige Sprache im hohen Staatsamt abwerfen müssen. Es kommt zu einer geheimnisvollen Transformation, die im Kopf der Beteiligten beginnt. Sie wollen jetzt nicht mehr Raupe, sie wollen jetzt Schmetterling sein.
Olaf Scholz ist der Prototyp des Technokraten, der Sprache als Distinguierungsmerkmal und damit zur Verschleierung seiner wahren Absichten benutzt. Er will nicht verstanden und schon gar nicht dechiffriert werden. Er ist seinen Wählern sprachlich entrückt.
Nur ab und zu, wenn seine Berater ihm einflüstern, er müsse mehr Volkstümlichkeit pflegen, entwickelt er eine Kinder- und Comicsprache - "Wumms"; "Doppelwumms"; "Bazooka" -, deren kindische Künstlichkeit vom Publikum ebenfalls durchschaut wird. Man fühlt sich nicht informiert, sondern peinlich berührt. Auch die Infantilisierung und damit die Banalisierung von Politik kann eine Barriere darstellen.
Überall in der westlichen Welt hat sich ein rhetorisches Regieren durchgesetzt, bei dem das Versprochene und das Gelieferte nicht mehr in Sichtweite zueinander leben. Viele Regierungspolitiker wollen die Schlagzeilen des nächsten Tages erreichen und nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Menschen.
Olaf Scholz hat im Spiegel-Interview am 20. Oktober hoch und heilig seine Treue zum Rechtsstaat geschworen und das Ende einer staatlich geduldeten illegalen Zuwanderung nach Deutschland verkündet: "Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben."
Auf die Ergebnisse wartet das Publikum bis heute. Die illegale Migration nach Deutschland hat im Jahr 2023 um 40,43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen.
In London und Washington dasselbe Spiel. Dauernd ist von Erfolgen die Rede, die sich im Leben der Wähler nicht materialisieren. Das Klima erhitzt sich. Die Preise steigen. Die Bahn fällt aus. Der Handwerker kommt nicht mehr.
Große Bevölkerungsgruppen, die man im Wahlkampf dank Zielgruppenansprache noch erfolgreich adressiert hat, fühlen sich anschließend im Stich gelassen. Der Aufstand der Gelbwesten in Frankreich, die Bauernproteste in Deutschland und die Studentenunruhen in den USA richten sich sehr gezielt gegen den jeweiligen Regierungschef und sind Ausdruck eines Nicht-Gesehen und Nicht-Gehört-Werdens.
Wichtig zu verstehen: Die Solidarisierungseffekte sind über die Interessen enger Zielgruppen hinaus deshalb groß, weil eine Mehrheit der Bevölkerung sich ebenfalls nicht gesehen und nicht verstanden fühlt. Die Bauern, die Studenten und die aufmüpfigen Autofahrer in Frankreich werden wie Helden verehrt, weil sie sich gegen eine demokratisch legitimierte Autokratie zur Wehr setzen.
Auch die Proteste während der Corona-Pandemie haben ihren Ursprung in einer Politik, die autoritär und eben nicht empathisch mit dem Wahlvolk umgegangen ist. Eine nicht verstandene Politik führt im Einzelnen zu Abstoßungsreaktionen und in der Summe zu einer Repräsentationslücke, die vor allem die Rechtspopulisten als ihr Terrain entdeckt haben. In dieser Lücke haben Demagogen und Querdenker ihre Zelte aufgeschlagen.
Dieser Grund des Missvergnügens ist der wichtigste: Aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft stimmt die Agenda nicht. Im Regierungshandeln nahezu aller westlicher Staaten hat es eine Überpriorisierung der Klimafrage und der Kriegsführung gegeben und damit verbunden eine Herabstufung der materiellen Sehnsüchte.
Die meisten Menschen wollen Umweltschutz, aber nicht auf Kosten ihres Wohlstandes. Sie haben nichts gegen Wärmepumpe, Elektroauto und energetische Häuserdämmung, aber wollen dazu nicht verdonnert werden. Die Agenda des Volkes und die Agenda der Volksvertreter stimmen nicht überein, wobei die Differenz in der Priorisierung liegt.
Auch die Kriegsführung in der Ukraine ist eine kostspielige, eine gefährliche und eben höchst strittige Angelegenheit. Nirgendwo in der westlichen Welt ist das Volk bereit, der Regierung hierfür einen Blankoscheck auszustellen. Die Menschen wollen nicht ihr Steuergeld an die Rüstungskonzerne überweisen. Sie wollen mehr Lehrer und nicht mehr Munition, weshalb die Prioritäten der Nato-Regierungen und ihrer Wählerschaft auch in diesem Punkt nicht synchronisiert sind.