Vorab: Der Artikel ist bemerkenswert und sollte unbedingt gelesen werden.

Die Meinung ist die eines intellegenten 80-jährigen Mannes, aber auch mit Ansichten diesen Alters.

Die Meinung darüber kann sich jeder selbst bilden und auch die Widersprüche erkennen.
Wenn er propagiert, die 72-Stunden Woche einzuführen, dann weiß ich was unter Flexibilität verstanden wird.

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Unternehmer im Interview

"Frau Merkel bewegt nichts mehr"

- Jürgen Heraeus spricht Klartext

Einer der mächtigsten Familienunternehmer des Landes rechnet ab - mit Kanzlerin und Bundespolitik, Europas Problemen und dem Feindbild China, Klimaprotesten und Work-Life-Balance.

Thomas Tuma

04.02.2020 - 11:20 Uhr

Herr Heraeus, Sie sind jetzt seit 55 Jahre im Konzern aktiv, der den Namen Ihrer Familie trägt. Als Vorstands- und Aufsichtsratschef haben Sie alles erlebt und die Wirtschaftswunder-Geschichte der Republik maßgeblich mitgeschrieben. In welchem Zustand erleben Sie Deutschland 2020?

In einem schlechten.

Inwiefern?

Der Corona-Virus scheint unser Land schon im Griff gehabt zu haben, bevor er in China überhaupt ausbrach. Aber im Ernst: Es herrscht eine große Apathie. Nichts geht voran - außer der Bürokratie. Dass der Bundestag über 700 Abgeordnete hat und die Politiker nicht mal fähig sind, eine simple Wahlkreisreform durchzuführen, ist ein Skandal. Aber die Frösche werden ihren Teich sicher nicht selbst trockenlegen.

Liegt's an der Politik oder an den Wählern, denn eigentlich haben Politiker ja sehr genaue demoskopische Seismographen dafür, was das Volk will?

Das Volk scheint mir müde geworden zu sein nach all den Jahrzehnten des Aufstiegs: die Nachkriegsjahre, das Wirtschaftswunder, der Weg zum Export-Weltmeister, Wende und Wiedervereinigung, aber eben auch die Auseinandersetzung mit Kräften von außen - von der Globalisierung bis zur Digitalisierung aller Lebensbereiche und Wirtschaftsfelder. Im Grunde hat der Wohlstand alle erreicht - nun muss er gehalten werden.

Es gibt auch Armut im Land.

Und die wird es immer geben. Selbst in den am höchsten industrialisierten Ländern der Welt werden es immer 10 bis 15 Prozent der Menschen nicht schaffen. Um die kümmert sich in unserem Fall ein fein austarierter Sozialstaat. Weiter oben in den Einkommenspyramiden - und das ist das Gefährliche - ist der Enthusiasmus, die Freude an Arbeit, weitgehend erlahmt, scheint mir.

Hat das auch mit Erschöpfung oder Verunsicherung zu tun angesichts der vielen Herausforderungen?

Es ist eher Genügsamkeit. Die vielbeschworene Work-Life-Balance ist ja auch was Schönes. Ich bin heute selbst einer von denen, die meinen Schwiegersohn mahnen: "Kümmere dich auch um deine Familie!" Er hat drei Kinder. Und er sagt dann immer: "Hast ja recht, aber wenn wir das Tempo der Asiaten nicht mithalten, werden wir unser Niveau nicht halten können." Das ist vielen Deutschen heute nicht mehr vermittelbar. Und diese Einstellung finden Sie überall, auf allen Ebenen, in allen Branchen.

Wo begegnet Ihnen das Phänomen?

Die Zeitungen sind jetzt zum Jahresanfang schon voll von Tipps, wie man sich mit ein paar Brückentagen noch mehr Urlaub gönnen kann - samt Schnäppchenangeboten zu Destinationen, von denen ich als junger Mensch nur hätte träumen können. Und diese Einstellung reicht bis weit in die Politik, die es für unzumutbar erklärt hat, dass die Deutschen im Alter länger arbeiten. Als seien wir ein Volk von Dachdeckern und Stahlarbeitern. Im übrigen geht da ja eine Menge Expertise verloren. Wenn wir immer länger leben, warum sollen die, die es können, nicht auch noch ein bisschen länger arbeiten? Für manche hat das ja sogar mit Anerkennung zu tun.

Ein Freund der SPD dürften Sie kaum sein.

Wissen Sie, es ist ein Jammer, was aus der SPD geworden ist, die so wichtig war und künftig auch wäre für dieses Land. Aber manche Politiker wie Andrea Nahles reden uns fortwährend ein, dass wir mit Ende 50 alle total erschöpft seien und Arbeit dann zur Zumutung werde. Das ist Nonsens, was Frau Nahles und andere da immer wieder behauptet haben.

"Das neue SPD-Duo hat sich für einen klaren Links-Kurs entschieden"
Als SPD-Vorsitzende hat sie am Ende hingeworfen. Nun wird die Partei von dem Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans regiert - und noch weiter nach links geschoben.

Frau Nahles war wenigstens noch authentisch und hat ihre Standpunkte glaubhaft vertreten. Aber jetzt? Herr Walter-Borjans zum Beispiel hat als NRW-Finanzminister andere angestiftet, Daten zu stehlen.

Sie meinen seinen Ankauf von CDs bei der Jagd nach Steuersündern.

Steuerhinterziehung ist verboten und gehört bestraft. Aber Mitarbeiter von Banken anzustiften, die Daten aus den Computern ihrer Arbeitgeber zu verkaufen - das war schon ein dicker Hund.

Welche Politiker flößen Ihnen innenpolitisch noch Vertrauen ein?

Ganz schwierig! Jens Spahn zum Beispiel macht als Gesundheitsminister ja mittlerweile einen guten Job. Und obwohl er anfangs fast zu laut agierte, gewinnt er jetzt zusehends an Profil. Nur teile ich zum Beispiel nicht die Hoffnung von manchen in der Union auf eine Rückkehr von Friedrich Merz. Er wäre sicher an der einen oder anderen Stelle ein guter Minister. Aber wer das Kanzleramt erobern will, muss auch bereit sein zu kämpfen. Gerhard Schröder zum Beispiel war ein enorm kluger Kämpfer - und übrigens auch der Beweis dafür, dass man es aus kleinen Verhältnissen nach ganz oben schaffen kann. Die wenigen Schlachten, die Merz geschlagen hat, hat er bedauerlicherweise verloren.

Wo bleibt in Ihrer Rechnung die FDP?

Leider hat es deren Großer Vorsitzender versäumt, eine gute Mannschaft zu präsentieren und stattdessen auf seine One-Man-Show gesetzt.

Sie sprechen von Christian Lindner...

... der durchaus gute Leute hätte, die er aber nicht auf die Bühne lässt. Lindners Stern verblasst nun schon allmählich. Schade eigentlich! Die Partei müsste mehr dafür tun, nicht nur von ihren Stammwählern wahrgenommen zu werden.

Wie erleben Sie die Kanzlerin?

Ich habe ihren Einsatz immer bewundert, ihre Leistungsbereitschaft.

Aber...?

Frau Merkel bewegt nichts mehr in Deutschland.

Was hätte sie tun sollen?

Wenn sie nach zwei Amtszeiten an einen jener Nachfolge-Kandidaten übergeben hätte, die sie allerdings dann alle weggedrängt hat, hätte man ihr längst Denkmäler gesetzt. Eine Zeitlang dachte ich, sie ginge nach Brüssel, wo sie sicher einen blendenden Job gemacht hätte. Als Außenpolitikerin und auf dem internationalen Parkett ist sie unschlagbar. Leider wird der Job des Kommissions-Präsidenten der EU eben von manchen immer noch als Abstieg gesehen - was dann wieder ein bisschen die Grundprobleme Europas illustriert.

"Ich habe Verständnis für die Briten, dass sie die EU nun endgültig verlassen"
Was sind denn die wichtigsten Herausforderungen, denen wir uns als Land stellen müssen?

Wir sollten überhaupt erst mal wieder lernen, vernünftige industriepolitische Debatten zu führen. Über die Frage, was wir mit unseren Ressourcen erreichen können, wird ja kaum geredet. Oder darüber, wo wir innerhalb der EU Änderungen durchführen müssen und Druck machen sollten.

Woran denken Sie da?

Dass dem französischen Alstom und dem deutschen Siemens-Konzern die Fusion ihrer Zugsparten verboten wurde, war ein schwerer Fehler der Kommission. Man kann da nicht argumentieren, die Chinesen seien keine Wettbewerber, weil deren Züge ja nur in China fahren. Weit gefehlt!

Ist China Gegner oder Partner für Deutschland und Europa?

Sie sind Wettbewerber. Nicht mehr, nicht weniger. Es wäre völlig idiotisch, die Volksrepublik zum Feind zu deklarieren. Sie ist nun mal keine Demokratie. Und auch wenn sie viele Dinge machen, die ich nicht gut finde, können wir die Chinesen doch nicht an unseren Wertmaßstäben oder gar kulturellen oder humanistischen Idealen messen. So lange das Wirtschaftswachstum einigermaßen anhält, werden die Chinesen einiges hinnehmen. Die ticken einfach anders und haben sogar zu Leben und Tod ein anderes Verhältnis.

Wie kommen Sie darauf?

Anfang der neunziger Jahre war ich auf einer China-Reise. Unterwegs sahen wir eine menschliche Leiche am Straßenrand liegen. Niemand kümmerte sich darum. Als wir am Nachmittag auf der gleichen Strecke zurückfuhren, lag der Tote immer noch da. Als wir unsere Gastgeber danach fragten, bekamen wir so sinngemäß zu hören, dass bei über einer Milliarde Menschen jeder auch selbst auf sich aufpassen müsse.

Furchtbar...

... und zugleich aus der Logik des Landes heraus zu erfassen. Tempo und Ehrgeiz, die aus Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein ökonomisches Wunder machten, sind jetzt eher in China zu finden. Die Losung von Alibaba-Gründer Jack Ma lautet ja nicht von ungefähr "9 9 6".

Das Heraeus Werk blickt auf eine lange Geschichte zurück.
(Foto: BOSTELMANN / BILDFOLIO für Handelsblatt)
Das heißt?

Er erwartet von seinen Beschäftigten, dass die von neun Uhr morgen bis neun Uhr abends arbeiten - an sechs Tagen pro Woche. Und das wichtigste: Er lebt das immer auch selbst vor. Man muss das nicht toll finden, aber es ist nun mal so. Und in der gleichen Art und Weise wuchsen Konzerne wie Foxconn, das heute fast eine Million Beschäftigte hat und diese Philosophie auch schon auf seine Zulieferer überträgt. Was glauben Sie, wie die auf Europa schauen?

Mit einer Mischung aus Unverständnis und Spott?

Manche in meinem Bekanntenkreis meinen, dass es bereits ein Glück wäre, wenn wir künftig noch die "verlängerte Werkbank der Asiaten" sein dürften.

In Brüssel regiert nun mit Ursula von der Leyen zwar eine Deutsche die Kommission. Aber statt sich um Industriepolitik zu kümmern, ruft sie einen "New Green Deal" aus. Folgen Sie Ihr?

Ich habe mittlerweile ein gewisses Verständnis für die Briten, dass sie die Gemeinschaft nun endgültig verlassen. Eigentlich müsste spätestens jetzt mal eine Debatte darüber geführt werden, wohin dieses Europa will. Schon um einen zweiten oder dritten Austritt zu vermeiden. Stattdessen schnürt Frau von der Leyen ziemlich großspurig Finanzpakete, die sie gar nicht hat - rund um eine Öko-Strategie, die längst nicht alle Mitgliedsländer mittragen.

Apropos Europa: Sie klagen beim Bundesverfassungsgericht mit einigen Mitstreitern gegen die Anleihekäufe und damit die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Wie steht's?

Das werden wir sehen. Aber dass der Italiener Mario Draghi, bis vor kurzem Präsident der Notenbank, jüngst das deutsche Bundesverdienstkreuz bekam, verwundert mich schon sehr. Nur in Italien würde er so einen Orden völlig zurecht bekommen.

Mit seinem Credo "Whatever it takes" hat er damals ja nicht nur sein Heimatland gerettet...

... sondern diese Rettungsaktion zugleich Frankreich und Deutschland erspart. Insofern ist das Verdienstkreuz ein Dankeschön. Aber hierzulande versteht man das dennoch nicht. Es ist eine Auszeichnung, die man eigentlich für wirklich harte Arbeit bekommt, dieses Land voranzubringen - ob als Krankenschwester oder Unternehmensgründer. Von Draghis niedrigen Zinsen haben am Ende nur die ohnehin Wohlhabenden profitiert: Aktien- und Immobilienbesitzer.

Auch so wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer...

... übrigens auch auf europäischer Ebene. Natürlich ist Deutschland der größte Nutznießer des EU-Binnenmarktes.

Was könnte die ja im Grunde schöne europäische Idee wieder stärken?

Ich wage nur die Prognose: Wenn es diesem Europa nicht in den nächsten 20 Jahren gelingt, sich gemeinsam als starke Kraft zu positionieren, werden wir zwischen so mächtigen Blöcken wie den USA und China keine Rolle mehr spielen - außer vielleicht als Urlaubs-Destination. Wir müssen Einheit wagen, statt uns in Debatten über Plastik-Strohhalme zu verzetteln.

Sie sehen zu viel Mikro-Management am Werk?

Wenn es das wenigstens wäre. Es wird ja nichts gemanagt, nur verteidigt. Mit unserem Demokratieverständnis, dass immer auch der Allerletzte noch mitentscheiden darf, ist konstruktive Zukunft vielleicht gar nicht mehr zu schaffen.

"Bei Greta Thunberg erlebe ich schon sehr viel Fanatismus" Jürgen Heraeus warnt, dass Deutschland ohne Anstrengung den Anschluss verlieren könnte.
(Foto: BOSTELMANN / BILDFOLIO für Handelsblatt)
In einem Interview haben Sie schon mal gesagt: "Es stellt sich manchmal die Frage, ob es Grenzen der demokratischen Führung gibt." Ein heikler Satz...

... aber dazu stehe ich. Eine gute autokratische Führung hat immer Vorteile. Wir dagegen leiden unter zwei Systemfehlern: Einerseits wird unsere Demokratie missbraucht und verkommt zu einer Republik von Planfeststellungsverfahren, in dem jede abwegige Meinung und jedes Partikularinteresse berücksichtigt werden muss - mit der Folge, dass manche Entscheidungen eben 15 Jahre oder länger dauern. Andererseits maßen sich tausende von Nichtregierungs-Organisationen, die ja oft nur eine kleine Interessengruppe vertreten, totale Mitbestimmung an. Ich habe da schon zu viele erlebt, die teils unflätig, teils voller Hass und immer kompromisslos nur das eigene Ziel verfolgten. Ihnen wird mehr - außerparlamentarische - Macht zugestanden, als sie verdient haben.

Sehen Sie das bei "Fridays for Future" und anderen Klima-Aktivisten ähnlich?

Durchaus, ja. Greta Thunberg muss man sicher zugutehalten, viele Konzernchefs und Politiker mal richtig herausgefordert zu haben mit einem eminent wichtigen Thema, das uns alle viel früher hätte umtreiben müssen. Das war's dann aber auch. Auch bei ihr erlebe ich schon sehr viel Fanatismus.

Wer nicht regieren muss, kann umso mehr fordern.

Da macht Sebastian Kurz in Österreich etwas sehr richtig: Er holt die Grünen mit in die Regierung und lässt sie gestalten. Dann wird sich schon zeigen, was durchsetzbar ist und was nicht. Vor einiger Zeit traf ich Winfried Kretschmann...

... den baden-württembergischen Grünen-Ministerpräsidenten.

Ich fragte ihn, wieviel Spaß das Regieren macht. Und er antwortete, es gehe so, man könne halt so wenig durchsetzen gegen die vielfältigen Widerstände.

Macht er es sich nicht zu einfach? Andere Politiker wie Donald Trump vermitteln ihren Wählern ja zumindest das Gefühl, dass sich was ändern kann und dass sie sich kümmern.

Trumps Befugnisse sind ungleich größer.

Was halten Sie von ihm eigentlich?

Erfrischend ist, dass er manche unbequeme Wahrheit einfach ausspricht, wenn auch bisweilen äußerst grob. Aber ansonsten bin ich wirklich kein Freund seiner Politik, seiner Moralvorstellungen oder seines Verhandlungsstils.

Was wäre denn Ihr Weg gegen den Klimawandel?

Mich stört die Halbherzigkeit in der Politik. Die CO2-Emmissionen müssen schrittweise so teuer werden, dass sie uns zu Innovationen geradezu zwingen.

Also hoch mit den CO2-Steuern?

Genau. Nur sollten wir nicht der Illusion aufsitzen, die Welt allein retten zu wollen oder gar zu können. Das schaffen wir weder als Deutschland noch als vereintes Europa. Das muss schon eine globale Kraftanstrengung werden.

Sehen Sie die Energiewende ähnlich kritisch?

Der Absolutismus, mit dem wir da so selbstzerstörerisch wie ineffizient zu Werke gegangen sind, ist erstaunlich. Die Energiewende hat uns unterm Strich bislang über 100 Milliarden Euro gekostet. Wenn wir die Hälfte davon in Afrika investiert hätten für sinnvolle Energie-Projekte, hätten wir fürs Klima viel mehr erreicht. Mal abgesehen davon, dass viel zu wenig über eine andere Energiequelle nachgedacht wird: Wasserstoff. Und unseren Autoverkehr können wir auch nicht einfach auf Elektro umstellen. All den Öko-Strom dafür gibt's noch gar nicht.

Insofern muss einen der Niedergang der einst gigantischen deutschen Energiekonzerne nicht wundern.

Oder des Finanzplatzes Deutschland. Wir hatten ja mal große und international bedeutende Geldinstitute. Oder des Telekommunikationsgeschäfts, in dem einst auch Siemens eine wichtige Rolle spielte. Und natürlich gilt das vor allem für die hiesige Autoindustrie, deren drohender Niedergang wirklich das verheerendste Zeichen von allen ist.

Wobei da die Konzerne ja mindestens eine Mitschuld trifft, oder?

Absolut. Die Verantwortung liegt in den Führungsetagen und dem lange dort verbreiteten Ingenieursstolz, den man auch Hochnäsigkeit nennen konnte. Sie hätten ja nicht gleich mit der reinen Elektro-Lehre anfangen müssen. Aber schon die Hybrid-Technik wurde ja eher belächelt. Wenn ich heute in Berlin unterwegs bin, sitze ich meist in Taxis asiatischer Herkunft mit Hybrid-Motoren. Und die Fahrer sind durchweg sehr zufrieden.

"Die Autoindustrie wird zum Klumpenrisiko des Landes"
Das Drama kulminierte erstmals 2015 in der Diesel-Affäre. Das stürzte auch viele Bundesbürger in eine Glaubenskrise, was die Ehrlichkeit hiesiger Techniker angeht.

Vor der Manipulation lag die Entscheidung neuer EU-Grenzwerte zum CO2-Ausstoß. Die wurden von der Bundesregierung unbesehen mitgetragen und der Industrie dann aufs Auge gedrückt, die obligatorisch entsetzt reagierte. Damit das alles nicht weiter auffällt, hat das Kraftfahrtbundesamt (KBA) neue Regeln erlassen, wie die rigiden Grenzwerte auf Prüfständen eingehalten werden können.

Sie meinen, das KBA hat den Konzernen den Weg in die Manipulation geebnet?

Natürlich. Ich war ja auch mal in die Reorganisation des ADAC involviert, wo man unter realistischen Fahrbedingungen immer ganz andere, höhere Emissionen registrierte. Dass uns das irgendwann um die Ohren fliegen musste, hätte allen Beteiligten klar sein müssen.

Dass dann auch die Software manipuliert wurde, sei nur einer kleinen Riege von Technikern anzulasten, wird offiziell bis heute behauptet.

Behauptet wird viel, ja. Da begann der Selbstbetrug. Ich habe früher ja öfter auch die Vorstandsebenen von großen Banken besucht. Je weiter man in der Hierarchie nach oben kam, umso tiefer wurden die champagnerfarbenen Teppiche, bis am Ende livrierte Diener die Tore zum Allerheiligsten des Vorstands öffneten.

Eine goldene Vergangenheit, die noch gar nicht so lange her ist...

... und die es ähnlich auch in der Autoindustrie gab. Das hat in den Unternehmen und ihren Mitarbeitern Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken, was Firmenkultur und Werte angeht.

Mittlerweile geht es gar nicht mehr um Karosserien, Design oder Technik - es geht um Daten.

Und das haben Unternehmen wie Google oder Tesla viel früher verstanden. Sie schleppen aber eben auch kein schweres Erbe aus einem anderen industriellen Zeitalter mit sich herum.

Tesla wird zum zweitwertvollsten Autobauer der Welt
Die Autoindustrie als Klumpenrisiko des Landes?

Leider ja. Natürlich braucht auch die Mobilität der Zukunft viele Fachkräfte. Aber man sollte sich auch nichts vormachen: Da wird man bei weitem nicht alle Beschäftigten bei VW, Mercedes oder BMW oder gar bei den Branchen drumherum umschulen können.

Sehen Sie überhaupt eine Chance, dass die deutsche Autoindustrie den Kurswechsel noch hinkriegt?

Die Chance gibt es, ja. Mittlerweile sind ja doch alle aufgewacht. Aber dann haben es die Konzerne auch mit Grünen zu tun, die ja am liebsten bis 2023 nur noch Elektromobile auf deutschen Straßen zulassen würden und gar nicht sehen, wie bedroht da nicht nur die Autobauer selbst sind, sondern auch die gesamte Zulieferindustrie samt Maschinenbauern. Da geht es um die Herzkammern der deutschen Volkswirtschaft. Das wird alles leichtfertig und teils populistisch aufs Spiel gesetzt. Und das vor dem Hintergrund, dass wir andere Revolutionen ja noch immer nicht verdaut haben. Nehmen Sie den Kohleausstieg, den Abschied von der Kernkraft, den unglaublich teuren Ausbau der erneuerbaren Energien.

Was erhoffen Sie sich von der nächsten Bundestagswahl?

Dass die Union zumindest vorne liegt. Sie wird dann mit den Grünen koalieren. Eigentlich würde ich der CDU aber jetzt schon empfehlen, beim SPD-Thema Grundrente knallhart zu bleiben und die Koalition endlich platzen zu lassen. Dann könnte Angela Merkel mit einer Minderheitsregierung und wechselnden Mehrheiten die Legislaturperiode noch gut über die Runden bringen. Und selbst die SPD würde davon profitieren, weil sie ihr Profil in der Opposition schärfen könnte.

Flößt Ihnen eigentlich wenigstens die nachwachsende Generation Vertrauen oder sogar Optimismus ein?

Auf jeden Fall. Die Jungen erlebe ich als ebenso fleißig wie klug. Bei den heutigen Start-ups geht es ja auch nicht mehr nur um Themen wie Klingeltöne oder Lieferdienste. Das hat große Substanz. Und sie lassen sich von uns Altvorderen auch nicht mehr alles gefallen, sondern sagen klar ihre Meinung - auch im Verhältnis untereinander, etwa wenn es um die Rollenverteilung von Mann und Frau geht.

Andererseits werden in Deutschland immer weniger Firmen gegründet - eigentlich auch ein Indiz für Ängstlichkeit und Sicherheitsdenken, oder?

Solche Umfragen gab es schon vor zehn Jahren. Das Problem ist ein anderes: Zur Zeit ist wahnsinnig viel Geld da. Und dieses Risikokapital wird vor allem in und von den USA und Asien verteilt. Die Folge: Entweder übernehmen ausländische Investoren gleich die besten Start-ups aus Deutschland, oder die jungen Gründer ziehen dorthin, wo das Geld ist. Beides ist schlecht für die Bundesrepublik. Trotzdem bin ich optimistisch für die nächste Generation. Man muss sie jetzt nur machen lassen.

Gutes Stichwort: Sie sind nun schon seit 20 Jahren Aufsichtsratschef des Familienkonzerns. Können Sie nicht loslassen?

Was die Compliance angeht, ist das bei uns alles genau geregelt und meine Nachfolge wird auf jeden Fall jemand antreten, der nicht zur Familie gehört. Ganz ehrlich: ich runzle ja selbst die Stirn, wenn ich mich über ein Unternehmen informiere und feststelle, dass der Aufsichtsratschef schon über 80 ist. Ich melde mich also beim Handelsblatt, wenn ich aufhöre.

Herr Heraeus, vielen Dank für das Interview.

Quelle: Handelsblatt vom 04.02.2020