Gastautor Gabor Steingart (Berlin)
Freitag, 19.01.2024, 06:23
Die AfD ist der politische Sieger des Jahres 2023 und womöglich auch des Jahres 2024. Bei der Europawahl im Juni 2024 dürften die Rechtspopulisten ausweislich der Prognosen abräumen. Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg liegen sie weit vorn, obwohl dort auch Rechtsextremisten zur Wahl stehen. Der "Economist" beschreibt Parteichefin Alice Weidel als "blue queen" und "Königin im Wartestand".
Die etablierten Parteien sind bei dieser Aussicht aus dem Häuschen. Allerorten wird gegiftet und gegrummelt. Man will die AfD-Wähler nicht verstehen, sondern verdammen. Und führende Politiker, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, würden sie am liebsten auf juristischem Wege aus dem Verkehr ziehen - lieber heute als morgen: "Wir sollten nicht so lange warten, bis die AfD zu relevant ist", sagte sie bei n-tv. Dieser Vorstoß ist politisch falsch, juristisch naiv und kommunikativ ein Irrweg.
Das Recht, andere Parteien zu verbieten, wurde von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes den politischen Parteien ausdrücklich entzogen. Sie sind nicht mal antragsberechtigt. Denn sie sind Wettbewerber und eben auch Rivalen im Kampf um die Macht.
Das Grundgesetz hat ein Parteiverbotsverfahren nicht der Exekutive, sondern dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen. Antragsberechtigt sind Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Auch das Bundesverfassungsgericht braucht, um ein Verbot auszusprechen, eine Zweidrittelmehrheit im Senat. Das bedeutet, Saskia Eskens Vorstoß ist eine Meinungsäußerung, die juristisch ohne Substanz ist.
Die Regierung von Adolf Hitler nutzte - kaum an der Macht - das Instrument des Parteiverbots, um die politische Opposition in Deutschland auszuschalten und das Land in einen totalitären Staat zu verwandeln.
Bereits im Februar 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand, wurde die KPD verboten. Die SPD folgte im Juni 1933. Die Deutsche Zentrumspartei, Vorgängerin von CDU und CSU, wurde wenige Tage später zur Selbstauflösung gedrängt. Ein halbes Jahr nach der Machtergreifung war die NSDAP die einzige legale Partei im Deutschen Reich. Die Persönlichkeiten der nunmehr verbotenen oder aufgelösten Parteien wanderten in vielen Fällen ins Gefängnis und später in die Konzentrationslager.
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Vor diesem Hintergrund haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes, die über das Parteienverbot auf der Insel Herrenchiemsee beratschlagten, die Hürden dafür in der demokratisch verfassten Bundesrepublik sehr hoch gesetzt. Die Waffe gegen Extremisten sollte nicht das Parteienverbot, sondern der Parteienwettbewerb sein.
Dennoch gibt es das Parteienverbot im Grundgesetz, als Mittel der allerletzten Wahl. Der Grundgesetzartikel, der das Parteiverbot regelt, setzt hohe Hürden. Für ein Parteiverbot müssten die grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie angegriffen werden, und zwar in einer aggressiv-kämpferischen Art, etwa in Form eines mehr oder weniger gewaltsamen Umsturzes, sagt der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier.
Man sollte einen Verbotsantrag nur dann stellen, "wenn man hinreichende Informationen hat, um alle die genannten Punkte wirklich zu belegen und man mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Erfolg ausgehen kann".
Zum jetzigen Zeitpunkt habe ein Verbotsverfahren "kaum Aussichten auf Erfolg", sagt der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein. Die AfD sei nur in Teilen, nicht aber als Ganzes rechtsextrem. Ihr Programm, Teile der Mitglieder und der Wähler seien nicht extremistisch. Zudem zeigt die Partei keine Ambitionen, Gewalt anzuwenden.
Und selbst wenn sie die Ambitionen zeigen würde, fehlen ihr derzeit die Mittel. Dem Gericht - so hieß es im NPD-Verfahren 2017 - fehlten "konkrete Anhaltspunkte von Gewicht, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass dieses Handeln zum Erfolg führt". Das NPD-Verbot wurde abgelehnt.
Deshalb sagt in der jetzigen Debatte der Rechtswissenschaftler Prof. Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg:
"Die AfD hat mit ihren 40.000 Mitgliedern nicht die Mittel, die Demokratie abzuschaffen. Sie ist im Vergleich zur NSDAP sehr klein, hat kein Paramilitär, zeigt sich nicht gewaltbereit und verfügt auch sonst über keine Machtmittel, den Staat auszuhebeln."
Ein Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dauert. Im Falle der NPD vergingen zwischen Antrag und Urteil vier Jahre. Das bedeutet: Eine Partei, die tot gemacht werden soll, wird vorher erst noch groß und wichtig gemacht.
Die AfD hätte in allen kommenden Wahlkämpfen ein Alleinstellungsmerkmal und würde sich als Projektionsfläche aller Unzufriedenen anbieten.
Viele Wähler der AfD und auch solche, die sich in den Umfragen als ihre Wähler in spe bezeichnen, sind ehemalige Wähler von SPD, CDU, FDP und Grünen. Viele dieser Menschen sind nicht rechts, nur unzufrieden. Sie wollen keinen zweiten Hitler, sondern eine demokratische Veränderung.
Fazit: Die Weimar Republik war am Ende eine Republik ohne Republikaner. Sie ist 1933 den Kältetod gestorben. Die Bundesrepublik des Jahres 2024 ist eine vitale Demokratie, die zur Überhitzung neigt. Demokratieabbau zum Schutz der Demokratie würde den Rechtspopulismus nicht beenden, sondern heroisieren. Die AfD wäre nicht weg, sondern unsterblich.