ÜBERGRIFFE IN KÖLN :

Frauen, versteckt euch!

VON URSULA SCHEER

-AKTUALISIERT AM 06.01.2016-06:22

Demonstration am Dienstagabend vor dem Kölner Dom Bild: dpa
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat für Frauen einen Tipp: Sie sollen zu Fremden "eine Armlänge" Abstand halten. Das ist für die Opfer, die von allen Seiten umzingelt wurden, der reine Hohn.

Was folgt aus der Silvesternacht in Köln? Welche Konsequenzen hat es, dass sich in und um den Hauptbahnhof der Domstadt ein Gruppe von tausend jungen Männern zusammenrottete, aus der heraus kleinere Gruppen Frauen einkreisten, sexuell belästigten und beraubten? Welchen Schlüsse zieht die Erkenntnis nach sich, dass diese Männer, die von der Polizei als alkoholisiert, enthemmt und gewaltbereit beschrieben wurden, Augenzeugenberichten zufolge aus Nordafrika oder dem arabischen Raum stammten? Und was daraus, dass die Polizei die Lage in der fraglichen Nacht nicht im Griff hatte und sie erst zwei Tage nach den Übergriffen in einer Presseerklärung benannte?

Ursula Scheer

Redakteurin im Feuilleton.

Die ersten Schlussfolgerungen der Politik sind erstaunlich. Erstens: Die Täter sollen ermittelt, angeklagt und strafverfolgt werden ohne Ansehen der Person. Das aber ist eine Selbstverständlichkeit in einem Rechtsstaat, die es nicht zu betonen bedarf. Zweitens: Die Stadt Köln will mehr Polizeipräsenz zeigen und die Kameraüberwachung ausweiten. Das nennt Henriette Reker, die Oberbürgermeisterin der Domstadt, "Prävention" - die sich allerdings nur auf die letzten Sekunden vor der möglichen Tat richtet. Drittens - und das ist nun wirklich das erstaunlichste Ergebnis des Krisentreffens, das die parteilose Oberbürgermeisterin am Dienstag anberaumt hat: Die Stadt Köln will Verhaltensregeln aufstellen. Und zwar für Frauen und Mädchen.

Den Opfern wird eine Mitschuld zugeschoben

Ein solcher Verhaltenskodex sei nötig, "damit ihnen", also Frauen und Mädchen, "solche Dinge", also sexuelle Übergriffe, "nicht widerfahren", sagte Henriette Reker. Die Stadt will die Regeln gemeinsam mit der Polizei erarbeiten und online stellen, und das besonders mit Blick auf den nahenden Karneval. Einige wichtige Verhaltensgrundsätze gab die Oberbürgermeisterin den Bürgerinnen aber jetzt schon mit auf den Weg: Frauen sollen zu "Fremden" mindestens "eine Armlänge" Abstand halten. Frauen sollen innerhalb der eigenen Gruppe bleiben und sich von dieser nicht trennen lassen, auch nicht in Feierlaune.

Eine Unverschämtheit

Ein Mob junger Männer macht Jagd auf Frauen, und Frauen bekommen daraufhin Verhaltenstipps? Das ist keine Prävention, das ist eine Unverschämtheit. Nicht die Opfer und potentielle Opfer müssen aufgefordert werden, ihr Verhalten überdenken, sondern die Täter gefasst und weitere Täter von ihren Taten abgehalten werden.

Abgesehen davon, dass es vollkommen unrealistisch ist, im Gedränge eines Bahnhofs und im Getümmel des Karnevals, "eine Armlänge" Abstand von jedem "Fremden" zu wahren, hat diese wohlmeinende Empfehlung in schlechtester paternalistischer Tradition den unangenehmen Beigeschmack, den Opfern implizit einen Teil der Verantwortung zuzuschreiben. Sie erinnert an das unselige Argumentationsmuster, nach einer Vergewaltigung der vergewaltigen Frau eine Mitschuld zu geben. War der Rock zu kurz? War der Gang zu aufreizend? Hat sie sich nicht angemessen verhalten?

Der Gewaltexzess war kein Missverständnis

Von solchen Verhaltenstipps sei es nur noch ein Schritt zu dem Hinweis, Frauen sollten das Haus besser nicht verlassen oder weite Gewänder tragen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegten, machen Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter ihrem Unmut Luft. Unter dem Stichwort #einearmlaenge sammeln sich in den sozialen Netzwerken die Empörung und der Spott über Henriette Rekers Einlassungen. Ob das ihr Ernst sei, fragen sich viele, ob Frauen also quasi selbst Schuld wären, wenn sie die beschriebene Distanz nicht wahrten.

Andere witzeln, mit der Arm-Strategie ließen sich gewaltbereite Männer sicher problemlos fernhalten, polemisieren, Rechtsradikale könnten den wohlmeinenden Tipp gänzlich falsch verstehen und den Hitler-Gruß zeigen, oder posten Fotos von Pop- und Filmstars in allerlei Posen mit ausgebreiteten Armen. Bilder von der Silvesternacht im Kölner Hauptbahnhof schließlich führen die empfohlene Armlänge-Strategie ad absurdum, weil sie eine kompakte Menschenmasse zeigen, in der jeder Abstand aufgehoben ist.

Doch die Praktikabilität von Henriette Rekers Empfehlung ist nicht der Punkt. Der liegt ganz woanders: Frauen in einer demokratischen Gesellschaft, die Gleichberechtigung in ihren Grundrechtskatalog geschrieben hat, brauchen keine Verhaltensempfehlungen. Sondern die Sicherheit, dass der öffentliche Raum ihnen genauso gehört wie Männern, woher immer diese auch kommen mögen. Die Kölner Behörden wollen übrigens nicht nur Frauen Verhaltenshinweise geben. Sondern auch "Karnevalisten aus anderen Kulturkreisen", damit diese sich vorab online informieren können, wo das "Bützen" aufhört und der sexuelle Übergriff beginnt. Als ob die Geschehnisse aus der Silvesternacht einfach nur ein Missverständnis gewesen wären.


Quelle: FAZ vom 06.01.2016