Von Gisela Friedrichsen
Freie Gerichtsreporterin
Veröffentlicht am 17.05.2017
Über manche Gerichtsurteile lässt sich trefflich streiten. Denn bisweilen gibt es gute Argumente sowohl für ein Pro als auch für ein Contra, weil sich die Wahrheit beim besten Willen nicht eindeutig zeigen will. Und unter Gerechtigkeit versteht ohnehin ein jeder etwas anderes. Doch eines sollte nicht passieren: dass der Eindruck entsteht, der Rechtsstaat habe sich lächerlich gemacht oder sei eingeknickt.
Der Fall, um den es geht, ist so selten nicht. Als in Hamburg zum Beispiel der Bruder der 16 Jahre alten Morsal zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, weil er das Mädchen erstochen hatte, das sich nicht den strengen traditionellen Regeln der aus Afghanistan stammenden Familie unterwerfen wollte - da brach nach der Urteilsverkündung im Gerichtsaal ein bösartiger, gewaltsamer Tumult aus. Familienangehörige versuchten, das Mobiliar zu demolieren und gegen die Richter tätlich zu werden.
Am Mittwoch hat das Landgericht Hannover fünf Männer zwischen 27 und 46 Jahren und eine 50 Jahre alte Frau, Mitglieder eines berüchtigten libanesischen Familienclans der Mhallamiye-Kurden, zu Bewährungsstrafen verurteilt - wegen Körperverletzung und Landfriedensbruchs, nachdem sie 2015 auf Polizisten und medizinisches Hilfspersonal losgegangen waren. Grund des Gewaltausbruchs: Der 26 Jahre alte Sohn der Frau, angeklagt wegen Raubes, hatte sich aus dem 7. Stock des Hamelner Gerichts gestürzt und sich dabei tödliche Verletzungen zugezogen.
Welche Schuld trugen die 30 verletzten Polizisten, Sanitäter und Krankenpfleger daran, dass der junge Mann vor Gericht stand? Dass er offensichtlich lieber das Weite suchen als sich zur Rechenschaft ziehen lassen wollte? Sie hatten keine Schuld daran. Sie haben nur ihren Job gemacht.
Die Verteidigung der sechs Angeklagten wies auf die emotionale Ausnahmesituation gerade der Mutter des Verunglückten hin, die, wie andere Familienmitglieder auch, mitangesehen hatte, wie der junge Mann in den Tod stürzte. Das war sicher schlimm. Das Gericht sprach von "tragischen Umständen", die zu der Gewalteskalation geführt hätten. Aber können sie als Rechtfertigung dienen, Unbeteiligten die Nase zu brechen? Einfach draufloszuprügeln und Pflastersteine zu werfen? Die Morddrohungen und Beleidigungen, die von den Angeklagten dabei ausgestoßen worden waren, seien nicht ernst gemeint gewesen, beschwichtigten die Verteidiger. Was sollen sie auch sonst sagen.
Vor dem Gesetz sind alle gleich, und jedermann hat Anspruch darauf, dass die besonderen Umstände seines Falls vor Gericht berücksichtigt werden. Die Richter hätten angesichts der sonstigen kriminellen Machenschaften des Clans den Strafrahmen durchaus weiter ausschöpfen können. Sie haben es mit Bewährungsstrafen gut sein lassen, die auf jene, die die Staatsgewalt missachten, kaum Eindruck machen. Ein fragwürdiges Signal.
Quelle: welt.de vom 17.05.2017