"Fragen Sie doch zuerst, ob Israels Besatzung gerechtfertigt ist"

Stand: 19.05.2021 | Lesedauer: 8 Minuten

Von Daniel-Dylan Böhmer, Nasser Jubara

Nasser al-Kidwa ist der Neffe des einstigen PLO-Führers Jassir Arafat. Im Interview erklärt er, warum er die Schuld an der Eskalation in Israel nicht bei der Hamas sieht - und welche Hilfe die Palästinenser von Deutschland bei der Konfliktlösung erwarten.

Nasser al-Kidwa, 67, ist der wohl wichtigste palästinensische Oppositionsführer - spätestens seit er sich mit der in Israel inhaftierten Palästinenser-Ikone Marwan Barghouti zusammengeschlossen hat. Kidwa ist der Neffe von Jassir Arafat, dem Mann, der die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und ihre säkular-sozialistische Teilorganisation Fatah von 1967 bis zu seinem Tod 2004 leitete.

Nasser al-Kidwa
Quelle: AFP

Umfragen zufolge hätten Kidwa und Barghouti mit ihrer Wahlliste über die Hälfte der Stimmen bei den geplanten Wahlen in Palästina bekommen. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen. Doch kurz bevor die Kämpfe zwischen Israel und der islamistischen Miliz Hamas ausbrachen, verschob Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die Wahl.

Kidwa, der unter Arafat als Vertreter bei den Vereinten Nationen und Außenminister politische Erfahrungen sammelte, ist überzeugt, dass es gerade jetzt eine neue Regierung braucht. Mehr noch: ein neues Verständnis von Palästina überhaupt.

WELT: Herr Dr. Kidwa, was hätte Ihr Onkel Jassir Arafat in einer Situation wie dieser getan?

Nasser al-Kidwa: Mit Arafat wären wir überhaupt nicht in diese Situation geraten. Dass es so weit gekommen ist, liegt an all dem, was schiefgegangen ist bei uns Palästinensern und in unseren Beziehungen zum Rest der Welt. Wir brauchen einen tiefgreifenden und umfassenden Wandel bei uns Palästinensern. Wir brauchen neue Führungspersonen und wir brauchen neue Inhalte.

Nichts davon entschuldigt die israelische Besatzung und die schwerwiegende Verantwortung Israels für das, was gerade passiert. Aber wir müssen uns mit beidem zugleich auseinandersetzen - mit Israels Besatzung und mit dem Wandel, den es bei uns selbst dringend braucht.

WELT: Die Hamas beschießt derzeit israelische Wohngebiete mit Raketen. Ist das Ihrer Meinung nach die richtige Antwort auf die Besatzung?

Kidwa: Das ist nur ein Ausschnitt des Gesamtbildes, bei dem Sie den Kontext ausblenden - die jahrzehntelange israelische Besatzung, den Kolonialismus der israelischen Siedler, die Verweigerung von Grundrechten für palästinensische Bürger, die fortgesetzte Diskriminierung und die aktuelle rechtsextreme Tendenz in der israelischen Politik, die eine Annexion palästinensischer Territorien und die Zerstörung des palästinensischen Staates zum Ziel hat.

Dazu gehörte auch das jüngste Eindringen von israelischen Sicherheitskräften in die Al-Aqsa-Moschee und die versuchte Räumung von palästinensischen Familien im Gebiet von Scheich Dscharrach. Damit hat es angefangen. Erst danach hat Hamas Israel mit Raketen beschossen.

Es wäre unfair, von Israels Recht auf Selbstverteidigung zu sprechen, ohne den Palästinensern das gleiche Recht zuzugestehen. Wir hätten Gewalt auf allen Seiten vermeiden und einen vernünftigen Dialog führen sollen. Aber in Zeiten, in denen das gesamte israelische Kabinett Halluzinationen folgt - das ist unser Land, wir holen uns alles! -, da kann man eine Eskalation dieser Art erwarten.

WELT: Und dann sind auch Raketen auf israelische Zivilisten gerechtfertigt?

Kidwa: Sie reißen das schon wieder aus dem Kontext. Fragen Sie doch zuerst, ob Israels Besatzung gerechtfertigt ist, der Siedlerkolonialismus, das Eindringen in die Al-Aqsa-Moschee - dazu würde ich Nein sagen. Und wenn Sie mich im Anschluss fragen würden, ob der Raketenbeschuss gegen israelische Zivilisten zu rechtfertigen ist, dann würde ich dazu vielleicht auch Nein sagen. Aber wenn Sie es aus dem Kontext reißen, dann stellen Sie Israel einen Persilschein aus. Israel ist das einzige Land der Welt, das immer alles tun darf, und niemand kritisiert Israel.

WELT: Kürzlich hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in einer Rede erklärt, er werde weiter alles tun, um die Rechte der Palästinenser zu verteidigen. Konkrete Vorschläge machte er nicht. Viele palästinensische Beobachter sehen ihn als geschwächt. Hat Abbas noch die Legitimation, im Namen aller Palästinenser zu sprechen?

Kidwa: Die Rede wird dem aktuellen Geschehen nicht gerecht. Auch nicht der erneuten Verschiebung der palästinensischen Wahlen. All das zeigt die Unfähigkeit der Palästinenserführung, ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden und sich Israel entgegenzustellen. Diese Inkompetenz zeigt sich leider schmerzhaft in der aktuellen Lage.

WELT: Sie haben gemeinsam mit Marwan Barghouti, dem in Israel inhaftierten Ex-Chef der Kampfgruppe Tanzim und langjährigen internen Kritiker der Palästinenserführung, eine Liste für die Wahlen in Palästina gebildet. Was würden Sie denn anders machen, wenn Sie an der Macht wären?

Kidwa: Wir müssten erst mal das Konzept unseres Staates definieren, wir müssten erreichen, dass sich dieser Staat auch behaupten kann. Beruhend auf den natürlichen Rechten des palästinensischen Volkes als den ursprünglichen Bewohnern dieses Landes. Wir dürfen mit Israel nicht mehr darüber verhandeln, ob es diesen Staat gibt, sondern nur noch über die beiderseitigen Beziehungen und den Grenzverlauf. So könnten wir Spielregeln grundlegend ändern. Dann könnten wir auch der Bedrohung durch die Siedler entgegentreten. Ihr Versuch, die palästinensische Bevölkerung zu verdrängen, ist ein Kriegsverbrechen.

Und dann muss man das Konzept des sogenannten Friedensprozesses und der Vermittler überdenken. Amerika kann kein Monopol als Vermittler beanspruchen. Und wir müssen die Struktur der PLO und der Palästinensischen Autonomiebehörde reformieren. Und die Lage der palästinensischen Bürger verbessern, ihre Gesundheit, die Situation der Medien. Dazu gehört auch der Kampf gegen die Korruption. Wir haben dazu ein detailliertes Programm mit 25 Punkten vorgelegt. Wir müssen den Stillstand überwinden.

WELT: Was würden Sie denn konkret anders machen in den Verhandlungen mit Israel?

Kidwa: Wir brauchen wieder eine klare Basis für Verhandlungen. Israel hat die Vereinbarungen aus den Oslo-Verträgen doch faktisch schon lange gekündigt. Es hat die militärische Kontrolle über die Palästinensergebiete wieder eingeführt - in Gestalt der sogenannten Sicherheitskooperation mit der Palästinenserbehörde. Die Zahl der Siedler hat sich deutlich erhöht. All das gefährdet die palästinensische Bevölkerung, aber letztlich auch die Israelis.

WELT: Was denken Sie, warum hat Palästinenserpräsident Abbas die Wahlen verschoben?

Kidwa: Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir das alles nicht so geplant hatten. Wir hatten noch versucht, auf die Vereinbarung zwischen Teilen der Hamas und der Fatah Einfluss zu nehmen und bei der Aufstellung der Wahlliste von Fatah. Erst als all das vergeblich war und nachdem das Zentralkomitee der Fatah weiter illegal gehandelt hat, haben wir eine eigene Liste gebildet. Wären die Wahlen nicht verschoben worden, hätten wir die Zusammensetzung des Legislativrats - also des palästinensischen Parlaments - neu bestimmen können, vielleicht sogar die Präsidentschaft.

Wenn Sie fragen, warum die Wahlen verschoben wurden, kann ich Ihnen eine einfache Antwort geben: Weil man das Wahlergebnis fürchtete. Der Deal mit der Hamas scheiterte, also gab es keine gemeinsame Liste. Der Versuch einer Präsidentenwahl ohne Gegenkandidat scheiterte, weil sich Marwan Barghouti aufstellte, mit dem ich eine Liste gebildet habe. All das machte eine Niederlage für die aktuelle Führung absehbar. Also hat man die Wahlen abgeblasen.

"Wo es Besatzung gibt, gibt es auch Widerstand"

WELT: Da Sie Barghouti ansprechen: Umfragen zufolge könnte er bei Präsidentenwahlen bis zu 60 Prozent der Stimmen erhalten. Er sitzt in Israel im Gefängnis und ist wegen mehrerer Anschläge auf israelische Zivilisten zu fünfmal lebenslänglicher Haft verurteilt. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Kidwa: Ich kann nicht für Marwan sprechen. Ich kenne die Details nicht, weil ich damals nicht hier war. Ich habe bei den Vereinten Nationen gearbeitet. Aber wo es eine Besatzung gibt, gibt es auch Widerstand. Entweder es gibt einen ernsthaften Friedensprozess oder es gibt keinen. Diese seltsame Zwischenlösung hilft niemandem.

WELT: Das heißt, Sie halten Angriffe auf Zivilisten unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt?

Kidwa: Nein, Angriffe gegen Zivilisten sind nicht gerechtfertigt. Das ist übrigens, was Israel die ganze Zeit tut - Angriffe auf Zivilisten. Aber Widerstand gegen Besatzung ist nach dem Völkerrecht erlaubt. Trotzdem ist es nicht das, was wir wollen. Wir wollen einen sinnvollen Friedensprozess, aber Israel lässt das gar nicht zu, weil es alles haben will und uns unsere nationalen Rechte abspricht. Mir ist nicht klar, wie Sie im Westen das ignorieren können.

WELT: Sehr viele EU-Staaten haben Palästina als Staat anerkannt. Und selbst Deutschland, das als Verbündeter Israels gesehen wird, kritisiert den Siedlungsbau. Es gibt doch sehr viel Kritik an Israel.

Kidwa: Ja, aber Sie tun nichts dagegen. Und wenn wir uns gegen Israels Siedlungsbau wehren, gelten wir als Terroristen. Das ist mir ein Rätsel.

WELT: Vielleicht hätten Sie mehr Unterstützung, wenn Sie sich klar und unmissverständlich zu gewaltlosem Widerstand bekennen würden. Aber das hören wir so nicht von Ihnen.

Kidwa: Doch, doch. Das können Sie von mir hören. Unser Wahlprogramm ist da ganz klar. Dass wir das Recht auf Widerstand gegen eine Besatzung anführen, bezieht sich auf unbewaffneten Widerstand. Nicht auf gewaltlosen Widerstand, denn die Israelis würden selbst Steinewerfen oder Demonstrieren als Gewalt bezeichnen. Aber sagen wir: Wir stehen für nicht-militärischen Widerstand.

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Quelle: WELT

WELT: Was könnte Berlin beitragen, um den Konflikt zu lösen? Was wünschen Sie sich von Deutschland?

Kidwa: Wir verstehen, dass Deutschland ein besonderes Verhältnis zu Israel hat. Dennoch sollte die Bundesrepublik ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht werden. Dazu gehört auch die Achtung der Genfer Konvention, welche es verbietet, die ethnische Zusammensetzung besetzter Gebiete zu verändern. Die Konvention ruft alle ihre Unterzeichner - also auch Deutschland - dazu auf, ihre Vorgaben durchzusetzen. Dafür reicht es nicht, immer mal besorgte Erklärungen abzugeben. Europa muss wirklich Druck ausüben, damit ein echter Friedensprozess in Gang kommt.


Kommentare:

Lullimuppi
Israel darf man von Hause aus als deutscher nicht kritisieren. Da gäbe es so viel zu sagen, zu fragen. Geht aber nicht.

Daniel R.
Natürlich geht das. Warum sollte es nicht? Man muss eben halt mit den Konsequenzen leben.


Quelle: welt.de vom 19.05.2021