Ein Kommentar von Veit Medick
11.04.2022, 13.29 Uhr
Dieser Auftritt bleibt. Klar, so häufig sieht man Politiker an den Grenzen ihrer Reserven ja nicht.
Sonntagabend, 21 Uhr, Anne Spiegel tritt vor die Kameras, ihre Stimme zittert, sie sieht blass aus. Weil sie kurz nach der Flutkatastrophe im Ahrtal als zuständige Umweltministerin Urlaub in Frankreich machte, muss sie sich erklären. Sie habe den Urlaub damals wirklich gebraucht, sagt Spiegel. Ihr Mann habe 2019 einen Schlaganfall erlitten, ihre Kinder unter den Folgen der Pandemie gelitten. Versteht man sie richtig, dann war diese Auszeit in Frankreich im vergangenen Sommer auch eine Art Versuch, familiär zu retten, was noch zu retten ist. Welch ein Eingeständnis.
Natürlich ist es menschlich beachtlich, wenn Politikerinnen und Politiker Schwächen zeigen, Probleme eingestehen. Wie den Spiegels geht es vielen Familien. Der Anspruch, alles parallel machen zu können, und dann auch noch gleich gut - die Karriere, die Familie, die Ehe - hat sich in verstörendem Maße etabliert. Hätte Spiegel die private Überforderung im Sommer vergangenes Jahr offengelegt, um sich politisch zurückzunehmen, wäre das vorbildlich gewesen. Jetzt aber wirkt ihr Verweis auf die angespannte familiäre Lage wie eine schäbige Ausrede.
Spiegel steht unter Druck. Als Landesumweltministerin in Rheinland-Pfalz wurde sie während der Flutkatastrophe ihrer Verantwortung nicht gerecht. Scheibchenweise gelangten in den letzten Wochen immer mehr Details zu ihrem Führungsversagen inmitten der Krise an die Öffentlichkeit. Während andere starben, kümmerte sie sich um ihr Image, nahm nicht an Kabinettssitzungen teil, machte Urlaub. Statt zurückzutreten, soll nun ihr Privatleben herhalten als rückwirkende Entschuldigung für die Versäumnisse und Erinnerungslücken, als Erklärung, um so weitermachen zu können wie bisher. Fast wirkt es, als missbrauche sie ihre persönlichen Lebensumstände, um ihr Amt zu retten. Das hat etwas Würdeloses.
Was sollen eigentlich diejenigen sagen, die in den Fluten ihre Häuser verloren haben? Deren Existenz wegbrach? Die buchstäblich in den Abgrund guckten und nicht einfach so weitermachen konnten wie bisher? Statt diese Menschen gestern Abend direkt anzusprechen, erklärte sich die Ministerin mit der Besoldungsstufe B11 selbst zum Härtefall. So schwierig ihre persönlichen Umstände auch gewesen sein mögen: Das geht nicht.
Wir als Gesellschaft brauchen eine Debatte über verdrängte Überforderung, völlig klar. Aber an dieser Debatte hat Spiegel offenkundig kein Interesse. Stattdessen wirkt es, als wolle sie mit ihrer Transparenz die Öffentlichkeit dazu zwingen, ihr aus menschlichen Gründen zu vergeben. Die Pandemie sei für ihre Familie eine "wahnsinnige Herausforderung" gewesen, sagt sie, bei ihren Kindern hätte sie "Spuren" hinterlassen.
Es ist gut, das offen auszusprechen. Noch besser wäre gewesen, Spiegel hätte die Millionen Kinder erwähnt, die ähnliche Härten durchmachten oder schlimmere, bis heute aber auf einen Urlaub warten. Wer als Ministerin Verständnis für die eigene Lage einfordert, sollte selbst Empathie zeigen. Wer das nicht macht, ist für ein öffentliches Amt schlicht nicht geeignet.
Quelle: spiegel.de