Flüchtlingskrise "Angela Merkel nimmt Europa in Geiselhaft"

Von Dennis Betzholz
Redakteur

Veröffentlicht am 12.01.2016 | Lesedauer: 11 Minuten

In der Flüchtlingsdebatte spricht der renommierte Parteienforscher Elmar Wiesendahl von einem neuen Kampf der Kulturen. Das Handeln der Kanzlerin bezeichnet er als "reine Gesichtswahrerei". Parteienforscher Elmar Wiesendahl: "Die Vertrauenskultur hat abgenommen"
Quelle: Andreas Laible

In der Flüchtlingsdebatte spricht der renommierte Parteienforscher Elmar Wiesendahl von einem neuen Kampf der Kulturen. Das Handeln der Kanzlerin bezeichnet er als "reine Gesichtswahrerei".

Er redet in druckreifen Sätzen, und wenn seine Antworten einmal länger ausfallen als drei oder vier Sätze, entschuldigt er sich - selbst dann, wenn jeder einzelne nötig war, um den Zusammenhang seiner Gedanken nachvollziehbar zu erklären. Elmar Wiesendahl weiß, wie man politisches Wissen vermittelt. Es ist gewissermaßen Teil seines Jobs: Der Hamburger ist einer der renommiertesten Parteienforscher des Landes, Politikberater und Mitgründer der Agentur für politische Strategie - und überparteilich.

Wiesendahls Aufgabe ist es unter anderem, die Wählerlandschaft zu analysieren - und Parteien Wege aufzuzeigen, wie sie eigene Themen setzen, um die Wähler zu mobilisieren. Doch zuletzt waren die Themen in der Hamburger Politik gesetzt: das Olympia-Referendum, der Flüchtlingszustrom und ganz aktuell die sexuellen Übergriffe auf der Reeperbahn. Im Gespräch rechnet er mit Olaf Scholz (SPD) ab, attackiert Angela Merkel (CDU) und die Opposition, die seiner Meinung nach keine ist.

Welt am Sonntag: Die Vorfälle auf der Reeperbahn und in Köln sind schon am Tag nach Bekanntwerden zum Politikum geworden. Die Kanzlerin hat sich scharf zu Wort gemeldet. Hätten Sie ihr das empfohlen?

Elmar Wiesendahl: Ganz sicher sogar. Gegen diese sexuellen Übergriffe und sexistischen Beleidigungen muss in aller Härte vorgegangen werden. Die Attacken in Köln und Hamburg weisen, falls es sich um Migranten handelt, auf den Import einer gegenüber Frauen respektlosen und unflätigen Machokultur hin, die sich bei einigen in sexuellen Gewalttaten entlädt.

Welt am Sonntag: Diese Übergriffe passieren in einer äußerst brisanten Phase der Flüchtlingsdebatte, in der die Sorge mehr und mehr zunimmt, die Integration der mehr als eine Million Flüchtlinge nicht zu schaffen. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Politik in den vergangenen Monaten?

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Quelle: Die Welt

Wiesendahl: Mich hat sie sehr geärgert, weil sie eine Zeit lang einseitig lief. Ein bestimmtes Lager aus der politischen Mitte, das libertär-humanistisch denkt und voller Inbrunst hinter der Willkommenskultur steht, hat die öffentliche Meinung bestimmt. In diesen Prozess der Verengung der Debatte ist es auch zu Schweigedruck gekommen und einem Druck zu politischer Korrektheit, bestimmte Positionen nicht mehr offen ausformulieren zu dürfen.

Welt am Sonntag: Hat sich das mittlerweile geändert?

Wiesendahl: Es gibt nun mehr Gegenreaktionen und Meinungspluralität. Die Medien haben sehr viel differenziertere Positionen eingenommen, weil sie eins erkannt haben: Es gibt nicht, wie so häufig behauptet, die Auflösung der Mitte nach rechts, sondern es gibt eine Aufspaltung der Mitte in drei Lager.

Welt am Sonntag: Welche sind das?

Wiesendahl: Das erste habe ich genannt, das ist das libertär-humanistische. Es neigt zu einer zivil-religiösen Gesinnungsethik. Man fühlt sich selbstgewiss im Sinne der Verfechtung höchster moralischer Werte wie Menschlichkeit und Barmherzigkeit. Dieses Lager hat einen Flüchtling vor Augen, der unbedingt in Deutschland bleiben muss. Das zweite Lager ist die pragmatische Mitte: Das sind Leute, die sind offen, die haben auch keine Angst, aber die stellen Fragen. Die wollen etwa wissen, warum sie 1,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern willkommen heißen sollen. Die wollen wissen, was das kostet, welche gesellschaftlichen Folgen das hat, was alles von der libertären Seite nicht benannt wird. Die pragmatische Mitte lässt sich am Ende auch überzeugen, weil sie ergebnisoffen an die Sache herangeht.

Welt am Sonntag: Wen schließt die dritte Gruppe ein?

Wiesendahl: Das sind Traditionalistisch-Verängstigte, auch noch aus der Mitte unserer Gesellschaft, die aber an den Rändern hin ausfransen zum völkischen und fremdenfeindlichen. Aber auch das ist eine Gruppe, die aus ihren Werthaltungen heraus ein Verständnis von Identität hat und die Identität kulturell durch Überfremdung infrage gestellt sieht. Wir haben es zu tun mit einem massiven kulturellen Richtungskonflikt zwischen den Lagern.

Welt am Sonntag: Kann man den aufheben?

Wiesendahl: Die pragmatische Mitte ist ganz sicher der Bündnispartner der Politik. Wobei die Politik einem Missverständnis unterliegt, Mehrheiten über die libertäre Richtung finden zu können. Da macht sie einen Fehler, der sich auch bei den Wahlen auszahlen wird. Sie muss eine Brücke bauen zu der vom Volumen her größten Gruppe: zu der pragmatischen, realistischen, skeptischen Mitte.

Welt am Sonntag: Dieser Schritt dürfte für die Kanzlerin politisch äußerst schwierig sein.

Wiesendahl: Ja, natürlich. Sie müsste sich um 180 Grad drehen, um dann aus der Not der katastrophalen Lage heraus zu sagen: Jetzt machen wir die Grenzen dicht. Das wäre das Scheitern ihrer Kanzlerschaft. Das, was jetzt stattdessen passiert, ist eine reine Gesichtswahrerei. Man versucht erpresserisch, die europäischen Staaten auf die deutsche Linie zu bringen, die von allen abgelehnt wird. Merkel nimmt Europa in Geiselhaft für die Aufrechterhaltung ihrer Fehlentscheidung am 5. September 2015.

Welt am Sonntag: Wie sähe Ihr Rat an die verantwortlichen Politiker in so einer prekären Situation aus, in der man das Heft nicht in der Hand hat?

Wiesendahl: Verantwortungsethisch geht kein Weg an einer Begrenzung der Flüchtlingszuwanderung vorbei. Wobei wir auch jetzt in der Weihnachtszeit 4000 Flüchtlinge pro Tag haben, die nach Deutschland kommen. Es gibt noch keinen Prozess der Abflachung der Bewegung. Wir gucken zudem nur nach Syrien. Wir werden im Frühjahr einen Massenansturm aus Libyen erleben.

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Quelle: Die Welt

Welt am Sonntag: Sollten - wie bei Olympia - aus Ihrer Sicht die Bürger befragt werden?

Wiesendahl: So ein Referendum würde, abgesehen von den rechtlichen Schranken, einen derart hohen Anteil an Kontrastimmen für eine weitere Zuwanderung von Flüchtlingen bringen, dass dieses Votum gar nicht umsetzbar wäre. Die Politik würde nochmals ihrer Handlungsmöglichkeit entblößt, weil sie die Haltung der Zweidrittel- oder Dreiviertel-Mehrheit für einen Stopp der Zuwanderung gar nicht realisieren kann.

Welt am Sonntag: Bedauern Sie in solchen Zeiten besonders eine schwache Opposition?

Wiesendahl: Es ist ja noch viel schlimmer: Wir haben ja gar keine Opposition in der Flüchtlingsfrage. Wir haben im Bundestag lauter Parteien, die einen humanitären Pro-Flüchtlings-Konsens vertreten. Was fehlt, ist, dass auch die pragmatische und die traditionalistische-ängstliche Mitte durch Parteien im Bundestag eine Stimme fänden. Wir haben da eine riesengroße Repräsentationslücke, die unverantwortlich ist.

Welt am Sonntag: Die AfD freut das.

Wiesendahl: So ist es. Wobei sich das derzeit noch in Grenzen hält, wenn man das mit den europäischen Nachbarstaaten vergleicht. Es ist eine ganz normale Reaktion auf die Vertretungslücke. Das erklärt auch die Schweigespirale. Wenn der Bundespräsident von einer Streitkultur oder gar Streitdebatte spricht, dann muss ich ihm erwidern: Die hat noch gar nicht begonnen.

Welt am Sonntag: Wie kann eine solche Debatte angestoßen werden?

Wiesendahl: Es bedarf dafür eigentlich pluralistisch ausgerichteter gesellschaftlicher Kräfte wie Kirchen, Akademien, Philosophen. Aber wir haben keine intellektuelle Debattenkultur. Anders als etwa in den USA, wo alle Positionen, von links bis rechts, intellektuell vertreten sind. Selbst die Kirchen liefern diesen Impuls nicht. Sie sind voll auf der Seite der libertären Willkommenskultur, dabei geht es nicht um Christentum oder Islam. Es geht um den Status und Erhalt der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Das hat nichts mit Fremdenangst zu tun, sondern mit einem "Clash of Cultures".

Welt am Sonntag: Warum befürchten Sie diesen Kampf der Kulturen?

Wiesendahl: Es heißt ja immer, die Integrationsbarrieren liegen in der Sprache und der mangelnden Qualifikation. Ich sehe noch zwei weitere Punkte: Die Flüchtlinge kommen aus vormodernen autoritären Staatsgebilden, die ausgesprochen repressive politische Strukturen besitzen. Sie haben über die Jahre nur unter staatlicher Unterdrückung gelebt. Mündiges Staatsbürgertum ist unterentwickelt. Und um damit klarzukommen, war für sie Korruption und Bestechung Alltag. Dieses Grundbewusstsein bringen sie nach Deutschland.

Welt am Sonntag: Warum malen Sie ein so düsteres Bild?

Wiesendahl: Weil die Flüchtlinge, und das ist mein zweiter Punkt, aus rückständigen, partiell feudalen gesellschaftlichen Verhältnissen kommen. Es ist nicht nur die Unterdrückung der Frau, sondern ein patriarchalisches Verwandtschafts- und Clan-System, das weit von der modernen Kernfamilie entfernt ist. Die arrangierte Ehe ist selbstverständlich, sogar die Zwangsehe. Nicht individuelle Freiheit und Selbstbestimmung, sondern die Ehre der Familie ist von höchstem Wert. Das individuelle Leistungsprinzip zählt wenig. Bei uns stellt dies aber das A und O dar, um beruflich etwas zu werden. Dort bedient man sich beruflich verwandtschaftlicher Beziehungen. Dieses Muster des gesellschaftlichen Zusammenlebens bringen sie nach Deutschland.

Welt am Sonntag: Glauben Sie nicht an die intrinsische Motivation eines Neubürgers, Teil dieses Landes zu werden?

Wiesendahl: Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen Neugier und Aufgeschlossenheit, um Land und Leute kennenzulernen, sich zu assimilieren und zu sagen: Ich will raus aus meinem gewohnten Umfeld. Wobei dem entgegensteht, dass die Flüchtlinge nicht um ihren Dauerstatus und eine gesicherte Bleibeperspektive wissen. Das ist ja noch alles Gerede: Ihr dürft bleiben. Das wird sich am Ende für viele ganz anders erweisen. Ich betone: erweisen müssen. Die mentale Integration, die nicht über den Arbeitsmarkt läuft, ist für mich das größte Problem - dieses sich Einlassen auf dieses Land, das keine Leitkultur hat.

Welt am Sonntag: Das zweite Thema, das Hamburg im vergangenen Jahr bewegt hat, war das bereits erwähnte Olympia-Referendum. Was hat Sie dabei am meisten geärgert?

Wiesendahl: Dass es eingebettet war in die Hamburger Verhältnisse. Und die laufen nach einem bestimmten Muster ab: Im Elitenbereich setzt man sich zusammen und bildet einen Konsens, häufig angeführt durch die Handelskammer. Dort schließt sich die Politik an, und man glaubt, wenn man diesen Konsens oben erzielt hat, dass er unten per Akklamation von der Bevölkerung bestätigt würde. Und da liegt, wie man gesehen hat, ein kapitales Missverständnis.

Welt am Sonntag: Hätte Olaf Scholz also eher den Moderator statt den Vorkämpfer geben sollen?

Wiesendahl: Nein, das kann er bei einer derart wichtigen Frage nicht. Er muss die Lokomotive eines solchen Zuges sein und muss voll unter Dampf stehen. Das hat er auch gemacht. Er hat aber einen großen Fehler gemacht, weil er zwar den Kostenrahmen aufdeckte, aber nicht gesagt hat, wie am Ende die ganze Sache bezahlt werden sollte - und dem Bund den Hauptteil der Finanzierung zuzuschieben, ohne dass der Bund zusagt, war ein elementarer Fehler, der ihm persönlich zuzurechnen ist. Und weil er, der Macher und seriöse Rechner, mit seinem politischen Kapital gespielt hat, hat er einiges davon verspielt.

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Quelle: Die Welt

Welt am Sonntag: Welche Konsequenzen hat das für Scholz?

Wiesendahl: Sein Macher-Image ist angekratzt. Olympia ist deshalb eine Zäsur, ein herber Einschnitt seiner Amtszeit. Sein größtes Problem aber wird 2016 ein anderes sein: Es stehen in Hamburg lauter Themen an, die alle professionelles Machertum erfordern, über deren Lösung der Senat aber die Kontrolle verloren hat - weil die EU, der Bund oder die Gerichte das letzte Wort haben. Nehmen wir nur die HSH Nordbank, die Elbvertiefung, Hapag-Lloyd oder auch die Flüchtlingskrise. Scholz wird seine Stärke, durch Entschiedenheit ein Ergebnis zu erzielen, unter dieser veränderten Agenda nicht mehr einbringen können. Deshalb wird es einen Paradigmenwechsel in Hamburg geben, der sich auch bei der nächsten Wahl ablesen lassen wird.

Welt am Sonntag: In den Tagen und Wochen danach wurde nach den Gründen für das Nein gesucht, nach dem Schuldigen. Am Ende wurde gar die Frage gestellt, ob das Referendum das geeignete Instrument sei, um politische Entscheidungen zu treffen. Ist die Diskussion an sich schon absurd?

Wiesendahl: Es war schon merkwürdig, den Schwarzen Peter gerade unter den Hamburgern selbst zu suchen, weil sie nicht richtig abgestimmt haben, obwohl das Referendum ausdrücklich von der politischen Seite gewollt war. Was im Übrigen auch richtig war. Hamburg ist damit nämlich zu einer Vorreiterstadt für solche Volksabstimmungen geworden.

Welt am Sonntag: Aber das Ergebnis dürfte dem einen oder anderen Politiker vor Augen geführt haben, dass ein Referendum kein Selbstläufer ist. Wird das Referendum deshalb künftig eher begrenzt eingesetzt werden?

Wiesendahl: Der Senat und die Bürgerschaft haben sich nun die Finger verbrannt, von daher wird man sich tunlichst hüten, noch einmal eine Gelegenheit zu suchen, ein Referendum von oben herbeizuführen. Denn die Gefahr des Scheiterns ist ja nun mehrfach nachgewiesen worden: Nehmen Sie den Rückkauf der Stromnetze, die Schul- oder Krankenhausreform in Hamburg.

Welt am Sonntag: Es gibt nicht nur in Hamburg eine Kluft zwischen dem, was die Politik für Lösungen anstrebt und wie die Bevölkerung denkt.

Wiesendahl: Das ist eine Entwicklung, die schon längerfristig läuft. Die Vertrauenskultur hat abgenommen. Die repräsentative Demokratie - und das ist viel wichtiger - bekommt jedoch immer noch Wahlbeteiligungsergebnisse von über 50 Prozent. Aber die Quote sinkt. Wenn sie bei den nächsten Bundestagswahlen unter 50 Prozent sinken sollte und etwa bestimmte Stadtteile eine Wahlbeteiligungsrate von unter 25 Prozent erreichen, dann wird eine kritische Debatte über die Legitimation der repräsentativen Parteien-Demokratie entstehen müssen. Bis hin zu der Frage: Führen wir die Wahlpflicht ein?

Welt am Sonntag: Das wäre ein radikaler Schritt.

Wiesendahl: Die Bürger am Wahltag - wie in den USA üblich - abzuholen und sie zur Wahlurne zu fahren, das sind alles Überlegungen, die hier noch völlig fremd sind. Wenn aber der Prozess des sozialen Auseinanderdriftens weitergeht, muss zwingend etwas geschehen, um eine Anbindung der Exkludierten wieder an die Politik herbeizuführen. Wir dürfen nicht übersehen, dass wir umgeben sind von Ländern, in denen diese Wahlpflicht praktiziert wird, siehe Belgien, Luxemburg, Schweizer Kantone oder Griechenland. Die machen damit gute Erfahrungen.


Quelle: welt.de vom 12.01.2016