Fake-Projekte Der wohl folgenschwerste Betrug in der deutschen Klimaschutzpolitik

Von Daniel Wetzel
Wirtschaftsredakteur

Stand: 13.06.2024 07:55 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten

Deutsche Autofahrer haben mit Abgaben Klimaprojekte im Ausland finanziert, die wohl gar nicht existieren. Von 75 Vorhaben in China gilt nur ein einziges als unverdächtig. Experten sehen einen Milliardenschaden - und das Vertrauen in die Energiewende erschüttert.

Dass sie bei jedem Tanken die THG-Quote bezahlen, ist den meisten Autofahrern nicht bewusst. Das Geld ist wohl vielfach in Fake-Projekte geflossen
Quelle: Getty Images/Oliver Helbig

Erschrocken, erschüttert, fassungslos: Mit diesen Worten kommentierten Experten von ADAC, Bauernverband und Biokraftstoffindustrie am vergangenen Donnerstag das offensichtliche Behördenversagen in einem Skandal, der sich immer mehr zum größten und womöglich folgenschwersten Betrugsfall in der deutschen Klimaschutzpolitik entwickelt.

"Was die Dimension angeht: Es handelt sich nicht um Peanuts, sondern um einen Milliardenschaden", sagte CDU-Umweltexperte Christian Hirte bei einem öffentlichen Fachgespräch mit Branchenvertretern im Bundestag. Von Deutschland finanzierte Ökoprojekte zur CO2-Einsparung im Ausland waren wohl nur vorgetäuscht, ihre Prüfung und Abnahme durch deutsche Zertifizierer gefälscht.

Nur ein Beispiel von vielen: Deutsche Autofahrer zahlten mit ihrer Klima-Abgabe beim Tanken offenbar rund 80 Millionen Euro für ein angebliches Klimaschutzprojekt in einer chinesischen Uiguren-Provinz, das sich bei der Überprüfung als ein verlassener Hühnerstall entpuppte. Recherchen deutscher Bioenergie-Unternehmen, ausgelöst durch den Tipp eines chinesischen Whistleblowers, wurden durch Nachforschungen des ZDF-Magazins "Frontal" vor Ort bestätigt.

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Bei mehr als 60 weiteren, ähnlich gelagerten Verdachtsfällen in China könnte der Schaden für die deutsche Energiewende im Verkehrsbereich mehr als 4,5 Milliarden Euro betragen, schätzt das Hauptstadtbüro Bioenergie, eine Interessenvertretung der Branche. Das Umweltbundesamt hatte nach monatelangem Zögern erst im Mai die Staatsanwaltschaft und das Auswärtige Amt eingeschaltet und chinesische Behörden um Amtshilfe gebeten.

Viel zu spät, kritisierten Bioenergie-Verbände und Oppositionspolitiker bei der Anhörung: "Durch fehlerhafte Zertifizierungen und schlampige Kontrollen deutscher Behörden ist nicht nur ein horrender finanzieller Schaden entstanden, sondern auch ein massiver Vertrauensverlust in Klimaschutzprojekte im Ausland", kritisiert Anja Weisgerber, klimapolitische Sprecherin der Union im Bundestag.

Klimaschutzauflagen für die Mineralölkonzerne stehen im Zentrum des Betrugs. Die Konzerne sind verpflichtet, die von Benzin und Diesel verursachten Treibhausgasemissionen von Jahr zu Jahr zu senken. Die Minderungsquoten legt die Bundesregierung fest. Um sie zu erfüllen, reicht es nicht mehr aus, fünf oder zehn Prozent Biosprit in die Kraftstoffsorten E5 und E10 zu mischen: Weitere Maßnahmen sind nötig.

Eine Option für die Ölmultis ist es, CO2-Sparmaßnahmen bei der Öl- und Gasproduktion im Ausland zu finanzieren. Zum Beispiel können sie das bei der Ölförderung anfallende Begleitgas abfiltern. Mit solchen "Upstream Emission Reductions", kurz UER genannt, dürfen sie ein Fünftel der Treibhausgasquote erfüllen.

Die Ölkonzerne können aber auch von Projektträgern Zertifikate kaufen, die eine neue Klimaschutz-Investition in eine Raffinerie oder einer Förderanlage belegen. Die Ausgaben dafür werden auf den Kraftstoffpreis an der Tankstelle umgelegt.

Für Fake-Projekte gezahlt

Dass beim Tanken neben der CO?-Abgabe nach Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) zusätzlich der Erfüllungsaufwand für die sogenannte THG-Quote bezahlt wird, ist den meisten Autofahrern nicht bewusst. Jetzt zeichnet sich ab, dass sie meist wohl für Fake-Projekte gezahlt haben. Vom Umweltbundesamt (UBA) und der Deutschen Emissionshandelsstelle (DEHST) wurden 75 UER-Projekte genehmigt - fast alle in China, obwohl das Land nur für fünf Prozent der globalen Ölproduktion steht.

Doch die deutschen Aufsichtsbehörden machte das nicht misstrauisch. Bioenergie-Firmen gehen nach Einschaltung von Detekteien in China davon aus, dass dringender Betrugsverdacht in 62 von 75 Fällen gegeben ist. In zwölf weiteren Fällen sei die Datenlage noch unklar. "Wir haben unter den 75 Projekten, die auf die deutsche THG-Quote angerechnet wurden, nur ein einziges gefunden, das unverdächtig ist", sagte Sandra Rostek, Leiterin des Hauptstadtbüros Bioenergie.

Deutschland muss künftig große Mengen "grüner" Kraftstoffe importieren, darunter Wasserstoff und e-Fuels. Entscheidend ist es dabei, im Lieferland kontrollieren zu können, ob die Produkte wirklich klimaneutral hergestellt wurden. Das betrifft nicht nur Kraftstoffe: Die EU-Kommission plant eine CO2-Abgabe auf Stahl und Zement an der europäischen Außengrenze ("CBAM"). Auch die hängt von der glaubwürdigen Zertifizierung der Importgüter ab.

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Doch eine unabhängige Kontrolle ist offenbar nicht durchführbar: Amtspersonen zur Kontrolle lässt Peking nicht einreisen. Erst im vergangenen Jahr hatte bereits ein Skandal um falsch etikettierte Biodiesel-Importe aus China für Schlagzeilen gesorgt. Der neue Betrug mit UER-Gutschriften ist also der zweite Fall innerhalb von zwei Jahren.

Der erhoffte Schutz der europäischen Industrie vor einer Flut billiger und angeblich "grüner" chinesischer Importe lässt sich durch gefälschte Zertifikate wohl leicht aushebeln. Das gefährdet die Klimastrategie von Regierung und EU-Kommission: "Es gibt einen erheblichen Vertrauensverlust in die Kontrollsysteme", sagte Detlef Evers vom Mittelstandsverband abfallbasierter Kraftstoffe: "Wenn sich niemand sicher ist, dass hier fairer Wettbewerb herrscht, wird man das Investieren lassen, und dann kann man die gesamte Energiewende vergessen."

Auch im Fall der UER-Gutschriften genügt es, wenn Projektträger dem UBA Geodaten mitteilen, die den Standort der angeblich neuen Produktionsanlage bezeichnen. Erst nach den Beschwerden von Bioenergie-Firmen aus Deutschland wurden einige davon überprüft. Schon die Eingabe bei "Google Maps" ergab, dass einige Geodaten nur auf unbebaute Orte in der uigurischen Wüste zeigten.

Betrugsgeflecht wahrscheinlich

Der Präsident des Umweltbundesamtes, Dirk Messner, erklärte bei der Anhörung, seiner Behörde sei bei Überprüfung der Vorwürfe enge Grenzen gesetzt. Man habe aber 40 Projekte geprüft und danach vier Anträge gestoppt. Er sei aber wahrscheinlich, dass man es mit einem "Betrugsgeflecht" zu tun habe. Auffällig sei, dass es immer dieselben zwei deutschen Gutachterbüros waren, die sich die fragwürdigen Zertifizierungen stets gegenseitig bestätigten.

Messner hatte bereits in der am 28. Mai ausgestrahlten "Frontal"-Sendung erklärt, 30 Projekte "intensiv geprüft" zu haben. Der Mineralölkonzern Shell, ein sogenannter Lead-Partner mehrerer UER-Projekte in China, teilte auf Nachfrage von WELT AM SONNTAG allerdings am 30. Mai mit: "Wir wurden zu keinem der UER-Projekte bei welchen wir als Lead Partner auftreten von der DEHSt bzw. dem UBA im Rahmen dieser Nachprüfungen angefragt." Insofern bleibt die Frage offen, was die von Messner behauptete "intensive Prüfung" wirklich umfasst.

"Das Umweltbundesamt und das Bundesumweltministerium haben völlig versagt", glaubt Christian Hirte, Berichterstatter für Umweltrecht in der Unionsfraktion: "UBA-Präsident Messner und die zuständige Ministerin Lemke haben diese Zustände entweder stillschweigend hingenommen oder sie haben ihren eigenen Laden nicht im Griff." Sollte sich herausstellen, "dass Präsident Messner und Ministerin Lemke nicht in vollem Umfang aufklären können, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie die Richtigen für diese Aufgabe sind."


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