FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Freitag, 24.01.2020
Die Welt ist in Bewegung geraten, auch in Deutschland brodelt es. Angeführt von der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg (17) hat sich eine globale Initiative gebildet, die ein radikales Umsteuern in der Klima-Politik anstrebt. An der Spitze des Massenprotestes gegen die Zerstörung unseres Planeten stehen Kinder und Jugendliche.
Während Thunberg ihre Botschaften auf der großen politischen Bühne wie jüngst beim Weltwirtschaftsforum in Davos verbreitet, gehen in Deutschland Hunderttausende Schüler und Auszubildende auf die Straße. Unter dem Motto "Fridays for Future" demonstrieren sie seit knapp einem Jahr jeden Freitag für einen besseren Klimaschutz.
Der "Umwelt-Streik" setzt die Politik gehörig unter Druck und zeigt Wirkung: Parteien überbieten sich mit Vorschlägen und Forderungen zur Verbesserung unserer Lebensgrundlagen. Gesetzesverschärfungen hier, Verbote und Einschränkungen da - Grün ist die Farbe der Stunde, der Klimaschutz dominiert alle anderen Themen. Umwelt first.
So gut wie niemand bestreitet, dass die Ziele der Klimaprotestler lobenswert sind und der Kampf gegen die Zerstörung der Natur dringend verstärkt werden muss. Doch wie weit sollte, wie weit darf der zivile Ungehorsam gehen? Was können sich junge Rebellen alles erlauben, wenn sie sich das - aus moralischer Sicht - höchstmögliche Ziel auf die Fahnen geschrieben haben: die Rettung der Welt?
Hans-Jürgen Papier, Deutschlands höchster Richter außer Dienst, hat darauf eine klare Antwort: Klima-Kämpfer dürfen alles - solange sie sich dabei an Recht und Gesetz halten. Doch dieser Grundsatz wird laut dem Top-Juristen permanent und massenhaft gebrochen.
Professor Papier war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts und lehrt bis heute an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. In seinem Ende 2019 erschienenen Buch "Die Warnung - Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird" (Heyne, 272 Seiten) setzt sich der Staatsrechtswissenschaftler kritisch mit den Schülerdemos auseinander. Zugleich warnt er vor dem Abgleiten in eine "Öko-Diktatur".
"Die berechtigte Forderung nach einer besseren und effektiveren Klimapolitik rechtfertigt keine Öko-Diktatur", mahnt Papier. Der liberale Rechtsstaat dürfe nicht einem Staat geopfert werden, "der, wenn auch aus hehren Gründen, Bürgerinnen und Bürger mit einer Flut von Ge- und Verboten überzieht".
In Bezug auf immer neue Umwelt-Auflagen schreibt Papier: "Vor einem hektisch betriebenen und nicht ausreichend durchdachten Katalog neuer Ge- und Verbote kann ich nur warnen." Damit würde man keine Lösungen erzielen, sondern "nur neue Probleme verursachen".
Hart ins Gericht geht Papier mit Greta Thunberg und ihren Anhängern hierzulande. Die Schwedin habe "Schüler und Jugendliche dazu motiviert, freitags nicht zur Schule zu gehen oder die Lehrstelle zu verlassen, um für eine effektivere Klimapolitik zu demonstrieren". Wer diesem Appell nachkomme und dem Unterricht fernbleibe, so Papier, begehe einen "eindeutigen und gezielten Rechtsbruch".
Zwar hätten Schüler in Deutschland ein Demonstrationsrecht, aber eben "kein Streikrecht" wie zum Beispiel Arbeiter. "Es gilt die Schulpflicht", stellt der frühere Bundesrichter klar. "Demonstrieren können sie auch am Nachmittag." Das Rechtfertigungs-Argument der Jugendlichen, mit Streiks nach Unterrichtsende oder an Wochenenden würde man Politik und Öffentlichkeit kaum wachrütteln, hält Papier für "problematisch".
"Natürlich bekommen diejenigen, die nach den Regeln spielen, weniger Aufmerksamkeit als jene, die gezielt Recht brechen", so Papier. Es sei jedoch "eine sehr bedenkliche Entwicklung, wenn ein solcher Regelverstoß als Druckmittel gegenüber der Politik verwendet wird und auch noch Unterstützung in der Öffentlichkeit findet". Papier: "Letztlich handelt es sich dabei nämlich um Selbstjustiz."
Der langjährige Präsident des Bundesverfassungsgerichts fragt, wozu es führen würde, "wenn künftig jeder, der glaubt, es besser zu wissen als das Gesetz, seine eigenen Regeln aufstellen würde".
In diesem Zusammenhang kritisiert Papier die zunehmende "Moralisierung des Rechtsempfindens". Moralische Begründungen würden benutzt, "um eigenmächtig das Recht auszuhebeln". Eine solche Haltung sei nicht nur "von einem hohen Maß an Arroganz und Selbstüberschätzung" geprägt, sondern auch demokratiefeindlich.
Als Beispiel nennt er die "widerrechtliche" Besetzung des Hambacher Forstes durch sogenannte Umwelt-Aktivisten. Papier stellt die Frage, was passieren würde, wenn solche "Rechtsbrecher" ihre eigenen Vorstellungen auch in anderen Bereichen gewaltsam durchsetzen würden: "Abtreibungsgegner könnten Arztpraxen lahmlegen, Flughafengegner Startbahnen besetzen und Tierschützer würden Rinder und Schweine befreien' - alles im Namen einer angeblich gerechten Sache."
Wenn solche - in der Vergangenheit bereits mehrfach geschehenen - Fälle von Selbstjustiz weiter Schule machten, "dann besteht die Gefahr, dass wir einen Zustand erreichen, in dem immer mehr Gruppen meinen, sie könnten ihre jeweiligen ethisch-moralischen Vorstellungen eigenmächtig durchsetzen - gegen das im demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren gesetzte Recht".
Papier betont, Moral und subjektives Gerechtigkeitsempfinden seien vergänglich und "kein Allgemeingut", das Recht und die Werte der Verfassung hingegen "ein unantastbarer Rahmen unserer Gesellschaft".
AdobeStock/iStock/Composing: Sascha WeingartzWeiter stellt er klar, dass die Kritik der "Fridays for Future"-Anhänger am bisherigen Klima-Kurs der Politik "völlig berechtigt" sei. Das Aufbegehren "von beachtlichen Teilen der Jugend" und die breite Unterstützung in der Öffentlichkeit zeige, "dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Mittel des Rechtsstaats immer weiter schwindet".
Dennoch ist Papier davon überzeugt, dass ein effektives Vorgehen gegen die Erderwärmung "nur in den Formen und mit den Mitteln des Rechtsstaats" möglich ist. "Anders wird sich die Welt nicht retten lassen."
Quelle: focus.de vom 24.01.2020