An einem seit Monaten umkämpften Frontabschnitt im Donbass hat Russlands Armee einen Durchbruch erzielt. Der für viele Beobachter überraschende Erfolg wirft ein Schlaglicht auf die ungenügende Ausrüstung der Ukrainer, aber auch auf Fehler ihrer Militärführung.
Andreas Rüesch 06.08.2022, 05.30 Uhr
David Goldman / AP
Gerade noch hatten sich die ukrainischen Streitkräfte im Aufwind gefühlt: Nach den verheerenden Schlachten vom Juni im Osten des Landes war der tägliche Blutzoll stark zurückgegangen, der russischen Offensive schien die Luft ausgegangen zu sein, und dank den hochpräzisen amerikanischen Himars-Raketenwerfern konnten die Ukrainer in der Südprovinz Cherson die Nachschubwege des Gegners unterbrechen. Doch die schlechten Nachrichten haben die Verteidiger wieder eingeholt.
Präsident Wolodimir Selenski bezeichnete es diese Woche in einer seiner abendlichen Videoansprachen als "schlicht die Hölle", was sich derzeit an manchen Frontabschnitten im Donbass abspiele. Selenski bezog sich auf den gegnerischen Granatenhagel, der auf die Städte Awdijiwka und Piski prasselt. Die beiden Orte liegen nahe der Metropole Donezk, die den moskauhörigen Separatisten der "Volksrepublik Donezk" als Hauptstadt dient.
Russlands Truppen stossen über die alte Waffenstillstandslinie nach Westen vor
An diesem Frontabschnitt ist den Russen diese Woche ein möglicherweise folgenschwerer Durchbruch gelungen. Auf einer Länge von rund 20 Kilometern mussten sich die Ukrainer zurückziehen. Piski ist offenbar grösstenteils gefallen, und für die Verteidiger Awdijiwkas wird die Lage prekär. Auf der Karte wirken die russischen Gebietsgewinne nicht spektakulär; es geht um wenige Dutzend Quadratkilometer. Deshalb spielen die Militärführung in Kiew und manche westliche Experten den Rückschlag herunter.
Doch das für viele Beobachter überraschende Vorrücken der Russen ist bedeutsam, weil es sich um einen der am stärksten befestigten Frontabschnitte des Landes handelte. Seit dem Waffenstillstand von 2015, dem sogenannten Minsker Abkommen, hatten die Ukrainer hier ein System von Schützengräben angelegt, um gegen die Separatisten der Donezker "Volksrepublik" gewappnet zu sein. Während die Russen nach der Invasion vom 24. Februar vielerorts die alte Waffenstillstandslinie durchbrechen konnten, hielten die Stellungen bei Piski mehr als fünf Monate lang.
Doch jetzt mussten die Ukrainer unter anderem eine zur Verteidigung genutzte Kohlemine und die von ihnen kontrollierten Teile des internationalen Flughafens Donezk aufgeben. Das folgende Video illustriert, wie Teile von Piski unter Beschuss stehen.
Пески под обстрелом z-армии сейчас. ВСУ продолжают контролировать часть поселка
pic.twitter.com/sqIxc215Og- IgorGirkin (@GirkinGirkin) August 6, 2022
Einen eigentlichen Dammbruch stellt der russische Vorstoss nicht dar. Dies liegt daran, dass den Angreifern die nötigen Kräfte fehlen, um nun rasch weiteren Boden gutzumachen. Mit entsprechenden Verstärkungen muss jedoch gerechnet werden. Russland hat ein Interesse daran, die Ukrainer weiter zurückzudrängen, um die strategische Position von Donezk zu verbessern. Die Aussenquartiere der Grossstadt lagen bisher fast direkt an der Front.
Für die Ukrainer besteht die Herausforderung darin, nun in kürzester Zeit ein neues Abwehrdispositiv aufzubauen. Sonst droht die Umzingelung von Awdijiwka, einer einst 30 000 Einwohner zählenden Industriestadt, die vor allem für die grösste Koksfabrik des Landes bekannt ist. Laut ihrem Bürgermeister, Witali Barabasch, harren in Awdijiwka noch immer etwa 2500 Zivilisten aus. Sie lebten unter furchtbaren, unmenschlichen Bedingungen, sagte er am Mittwoch gegenüber Radio Liberty. Es gebe weder Gas noch Wasser. Beim Beschuss der Stadt setze Russland schwere Flammenwerfersysteme ein, eine der gefürchtetsten Waffen im russischen Arsenal, weil ihre Raketen eine enorme Hitzewirkung entfalten und auf grösseren Flächen alles verbrennen können.
Die ukrainische Generalität hat sich durch die russische Offensive offensichtlich überraschen lassen. Zwar soll inzwischen Verstärkung eingetroffen sein, aber zuvor waren die Verteidiger auf fatale Weise unterbesetzt. Tief blicken lässt das Zeugnis eines jungen Unteroffiziers, der am Dienstag auf Facebook folgenden Hilferuf absetzte: "Was kann mir am sechsten Tag meiner persönlichen Hölle in Piski noch genommen werden? Die Leichen derer, die mir lieber waren als eine Familie, liegen unter der Hitze in den zerstörten Schützengräben."
Täglich gingen 6500 Granaten über diese Ortschaft nieder, schrieb der Truppführer einer Freiwilligeneinheit. Sein schwach bewaffnetes Infanteriebataillon sei kaum in der Lage, darauf zu reagieren. Gegenschläge mit Artillerie, sogenanntes Konterbatteriefeuer, bleibe völlig aus. Dadurch fresse sich der Gegner systematisch durch die stärksten Verteidigungsstellungen. Er fühle sich wie Kanonenfutter; seine Soldaten könnten sich "nur mit blossen Körpern" den Angriffen entgegenstellen.
Der Bericht deutet darauf hin, dass die Ukrainer noch immer kein Rezept gefunden haben, um die russische Artillerie - eine eigentliche Vernichtungsmaschinerie - zu stoppen. Die Zerstörung von mehreren Dutzend russischen Munitionsdepots durch amerikanische Himars-Raketen hat zwar Aufsehen erregt, aber die russischen Vorräte an Granaten sind dadurch keineswegs erschöpft. Bei Piski mangelte es den Ukrainern zudem an jeglicher Artillerie, von westlichen Präzisionsgeschützen ganz zu schweigen.
(dpa) Die russischen Truppen attackieren nach Angaben aus Kiew mit aller Härte die Stadt Bachmut, einen Eckpfeiler des ukrainischen Verteidigungssystems im Donbass. "Die Kämpfe halten an", teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Samstag mit. Die prorussischen Einheiten hatten am Vortag vermeldet, es gebe Gefechte bereits innerhalb des Stadtgebiets. Diese Angaben konnten nicht überprüft werden. Seit der Eroberung des Gebiets Luhansk konzentrieren sich die russischen Offensivbemühungen in der Ostukraine auf das benachbarte Gebiet Donezk. Sie kontrollieren davon inzwischen etwa 60 Prozent. Das Hauptquartier der ukrainischen Truppen im Donbass befindet sich im Ballungsraum Slowjansk - Kramatorsk, wo vor dem Krieg gut eine halbe Million Menschen lebten. Von Osten her ist dieser Raum durch die Festungslinie Siwersk - Soledar - Bachmut gesichert, die nun an mehreren Stellen ins Wanken gerät.
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Quelle: NZZ