19.09.2021 - 17:00 Uhr
Düsseldorf
Auf den ersten Blick ist die Kohlesparte für RWE nur noch lästiger Ballast. Der Ausstieg ist besiegelt, und Deutschlands Kohlekonzern Nummer eins muss seine Kraftwerke bis spätestens 2038 schrittweise abwickeln.
Tatsächlich kann der Stromproduzent mit dem klimaschädlichen Energieträger nach Informationen des Handelsblatts aber noch viele Jahre lang satte Gewinne erwirtschaften. RWE hat sich äußerst geschickt gegen das größte Risiko abgesichert: die stetig steigenden CO2-Preise.
"Das darf man nicht laut sagen, aber mit Kohle verdient RWE richtig gutes Geld", sagt ein RWE-Insider. "Was wir im Moment sehen, ist, dass die Nachfrage nach Braunkohle auch bei einem höheren CO2-Preis da ist, weil die Kapazitäten im Strommarkt knapp geworden sind", sagt eine Sprecherin des Konzerns auf Anfrage.
Im ersten Halbjahr liefen die Kohlekraftwerke des Konzerns trotz Kohleausstieg und Klimadebatte auf Hochtouren. Mit den Braunkohlekraftwerken erzeugte RWE 21.500 Gigawattstunden (GWh) Strom, fast 50 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Steinkohlekraftwerke steigerten die Produktion um gut ein Drittel auf 3400 GWh.
Dabei hatte RWE im Zuge des Kohleausstiegs sogar schon zwei Steinkohleblöcke und einen Braunkohleblock stillgelegt. Das Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) in der Sparte Kohle/Kernenergie kletterte um 75 Prozent auf 545 Millionen Euro.
RWE verweist auf "günstige Marktbedingungen". Eigentlich verwundert das, schließlich ist zwar der Strompreis im Großhandel sprunghaft geklettert, aber genauso der Preis für CO2-Zertifikate, die insbesondere die Kohleverstromung verteuern sollen. Aktuell kostet ein Zertifikat, das zum Ausstoß einer Tonne des Treibhausgases berechtigt, rund 60 Euro. Im vergangenen Jahr waren es im Schnitt nur 25 Euro.
Ausgerechnet bei Deutschlands größtem Kohlekonzern verpufft der Effekt aber. "Wir können den steigenden CO2-Preisen gelassen entgegenblicken", heißt es von RWE selbst. Das Unternehmen hat sich schließlich schon vor Längerem zu äußerst günstigen Konditionen gegen das CO2-Preis-Risiko gewappnet - und zwar für das ganze Jahrzehnt.
"Die finanziellen Auswirkungen steigender CO2-Preise sind bis 2030 vollständig abgesichert", hält RWE in einem Bericht gegenüber der Klimaschutzorganisation Carbon Disclosure Project nüchtern fest: "Um diese Risiken zu mindern, setzen wir Absicherungsinstrumente ein. Daher sehen wir bis 2030 keine potenziellen Auswirkungen."
Dahinter steckt eine Glanzleistung der eigenen Tradingabteilung. "Wir haben schon vor Jahren angefangen, uns im großen Stil mit Zertifikaten einzudecken, als die Preise im Keller waren", berichtet ein Ex-RWE-Manager.
Der Konzern will zwar nicht beziffern, wie viele CO2-Zertifikate er sich bis 2030 gesichert hat und zu welchen Preisen. Für 2019 und 2020 hatte er den durchschnittlichen CO2-Preis je Megawattstunde aber mit fünf Euro angesetzt, für 2021 mit acht und für 2022 mit 16 Euro, wie aus einer Präsentation hervorgeht. Dabei fallen pro Megawattstunde Strom in einem Braunkohlekraftwerk etwa eine Tonne CO2 an. RWE hat sich die Zertifikate also zu einem Bruchteil des jeweiligen Marktpreises gesichert.
"Die detaillierten Informationen dazu werden gut gehütet", sagt Analyst Peter Crampton von Barclays: "Das ist ja auch politisch eher sensibel."
Die Analysten von JP Morgan bezeichneten jüngst in einem großen Bericht zur RWE-Aktie das CO2-Hedging des Konzerns als "Blackbox" und "große Unbekannte" - und eben als entscheidend für die Bewertung des Kraftwerksparks.
Die Analysten schätzen, dass RWE sich aktuell Zertifikate für 200 Millionen Tonnen CO2 gesichert hat. Dabei könne RWE beim Hedging einkalkulieren, dass steigende CO2-Preise auch den Großhandelspreis nach oben treiben. Andere Analysten und Branchenvertreter halten die Schätzung von JP Morgan aber sogar für viel zu tief gegriffen.
Tatsächlich ist das Thema brisant. Der RWE-Konzern, der wegen seines Kohleengagements für Klimaschützer noch immer das Feindbild Nummer eins ist und als "Dinosaurier" gilt, richtet sich endlich auf die Energiewende aus. Seit dem milliardenschweren Tauschgeschäft mit Eon 2019 ist RWE wieder ein großer Spieler bei erneuerbaren Energien.
Während das letzte Atomkraftwerk im kommenden Jahr vom Netz geht und der Kohleausstieg beschlossen ist, hat der Ruhrkonzern Wind- und Solarenergie zum neuen Kerngeschäft erkoren, investiert Milliarden und will bis 2040 klimaneutral werden. Im vergangenen Jahr akzeptierte er auch den Fahrplan zum schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung und der Förderung von Braunkohle im Tagebau.
Dafür wird RWE vom Bund mit 2,6 Milliarden Euro entschädigt. Berichte über gute Geschäfte mit der Kohle dürften die ohnehin starke Kritik an den Entschädigungszahlungen befeuern und den Druck auf die nächste Bundesregierung erhöhen, den Kohleausstieg noch vorzuziehen.
Der Energiekonzern will bis 2040 klimaneutral werden.
(Foto: Reuters)
Dabei muss RWE nach Einschätzung von Branchenexperten gar keine Angst vor einem noch schnelleren Abschalten seiner Kraftwerke haben. "RWE hat schon in den Jahren 2017 und 2018 die Entwicklungen am CO2-Markt richtig eingeschätzt", sagt Analyst Crampton: "Es war letztlich klar, dass der Preis deutlich ansteigen würde. So ist es ja politisch auch gewollt." RWE habe sich für den damaligen Kraftwerkspark bis 2030 komplett gegen das CO2-Risiko abgesichert. Nicht aus spekulativen Gründen, sondern um das absehbare Risiko zu mildern.
"Das war ein hervorragender Move", sagt Analyst Crampton: "RWE sollte deshalb trotz der steigenden CO2-Preise die Braunkohlekraftwerke auch in den kommenden Jahren gewinnbringend betreiben können." Und da inzwischen das Aus für einige Kohlekraftwerke besiegelt wurde, dürfte RWE sogar "überzählige Zertifikate" haben - und könnte sie möglicherweise mit Gewinn auf den Markt bringen.
In Branchenkreisen wird sogar vermutet, dass RWE bereits damit begonnen hat, CO2-Zertifikate zu Geld zu machen. Die Tradingabteilung hatte zuletzt sehr gut performt. Das könnte an guten Geschäften mit den CO2-Rechten liegen, heißt es.
Es wird sogar spekuliert, dass RWE in den kommenden Jahren vorrangig die CO2-Rechte am Markt verkaufen und die eigenen Kraftwerke wiederum mit teureren Rechten am Markt versorgen könnte. Die Tradingabteilung würde dann hohe Gewinne verbuchen, die Gewinne mit den Kohlekraftwerken würden dagegen nicht zu üppig ausfallen - was politisch opportun wäre.
"Es ist wahrscheinlich, dass die Tradingabteilung nach und nach manche der CO2-Zertifikate verkaufen wird", meint Analyst Crampton.
Nach Einschätzungen von Enkraft Capital muss das Geschäft mit den CO2-Rechten sogar so lukrativ sein, dass der Investor "signifikante stille Reserven" sieht. In einem Brief an RWE forderte die aktivistische Investorengruppe in der vergangenen Woche die Abspaltung des Erneuerbaren-Geschäfts von RWE.
Sie hält das Unternehmen aufgrund der Braunkohleaktivitäten am Aktienmarkt für massiv unterbewertet. "Und da sind die CO2-Zertifikate noch gar nicht mit eingerechnet", sagt Enkraft-Geschäftsführer Benedikt Kormaier im Gespräch mit dem Handelsblatt. "Nach unseren Schätzungen liegen die aus den CO2-Zertifikaten und Derivaten resultierenden stillen Reserven zwischen zehn und 13 Milliarden Euro." Und das sei noch konservativ kalkuliert.
In der Tat könnte sich die Frage nach einem Verkauf der Zertifikate in den nächsten Jahren noch öfter stellen. "Wenn die Strompreise auf dem heutigen Niveau bleiben, dann kann RWE damit die Kosten decken. Aber die Tendenz geht eher dahin, dass die Strompreise nicht auf diesem hohen Niveau bleiben", glaubt Energieexperte Felix-Christian Matthes vom Öko-Institut. Wenn die Strompreise sinken, könne es durchaus attraktiv sein, die gesicherten Zertifikate zu verkaufen, so Matthes.
Es ist eine riskante Wette auf die Zukunft der Strompreise. Trotzdem ist RWE nicht der einzige Akteur, der clever mit CO2-Rechten handelt. Viele Hedgefonds haben sich langfristig mit den Verschmutzungsrechten eingedeckt und spekulieren auf steigende Preise. Und auch Konkurrenten von RWE haben sich nach Informationen des Handelsblatts eingedeckt - in Einzelfällen ebenfalls bis 2030.
Aber auch die Konkurrenz hält sich bei dem Thema offiziell lieber bedeckt. Ein Sprecher der ostdeutschen Leag, des zweitgrößten Förderers von Braunkohle in Deutschland, teilte auf Anfrage mit, das Unternehmen wolle "zu diesen Fragen, die betriebsinterne Details betreffen, keine Stellung nehmen".
Ähnlich äußerte sich der Düsseldorfer Energiekonzern Uniper. "Da die Märkte nur auf wenige Jahre im Voraus liquide sind, hedgen wir meist nicht weiter als drei bis vier Jahre in die Zukunft", teilte ein Sprecher des Unternehmens auf Anfrage lediglich mit.
Auch EnBW wollte sich "aus Wettbewerbsgründen" nicht genauer zu dem Kauf von CO2-Zertifikaten äußern. Aus einer Präsentation für Investoren geht allerdings hervor, dass auch der Energiekonzern aus Baden-Württemberg vorgesorgt hat. So sind selbst 2024 immerhin schon bis zu 30 Prozent der Emissionen abgesichert.
So positiv die Aussichten für RWEs Kohlekraftwerke in diesem Jahrzehnt auch sind, so unsicher sind sie darüber hinaus. Zumindest bei einer Regierungsbeteiligung der Grünen wird mit einer Debatte um einen auf 2030 vorgezogenen Kohleausstieg gerechnet.
Und selbst wenn nicht, sind die wirtschaftlichen Aussichten düster, da dann die Absicherung gegen die CO2-Preise ausläuft. "Wir erwarten, dass RWEs Braunkohleflotte in die Verlustzone rutscht, sobald das strategische Hedging 2030 ausläuft - und die Flotte komplett dem CO2-Preis ausgesetzt ist", schreiben die Analysten von JP Morgan.
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Quelle: Handelsblatt vom 19.09.2021