FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer (Görlitz)
Donnerstag, 27.01.2022, 08:23
Im Strafprozess gegen zwei mutmaßliche kriminelle Schleuser am Amtsgericht Görlitz ist ein erschreckender Sachverhalt zum Umgang deutscher Behörden mit illegal eingereisten Ausländern bekannt geworden. Ein FOCUS-Online-Reporter war bei der Verhandlung dabei, die sich an diesem Montag bis in die Abendstunden hinzog und bei allen Beteiligten für Kopfschütteln und ungläubiges Staunen sorgte.
Während des Prozesses stellte sich heraus, dass 23 eingeschleuste Personen aus dem Irak und Iran, die am 31. Oktober 2021 von Bundespolizisten in Görlitz gefasst worden waren, mittlerweile spurlos verschwunden sind. Die deutschen Sicherheits- und Justizbehörden wissen nicht, wo sich die Mitglieder der Gruppe derzeit aufhalten.
Die Geschleusten, allesamt Männer sowie ein Kind, waren über Belarus nach Polen eingereist und von dort nach Deutschland eingeschleust worden. Dabei profitierten sie vom autoritären belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, der ab August 2021 gezielt Tausende Migranten aus Nahost und Afrika an die polnische Grenze leitete und ihnen so den Weg zur Flucht nach Deutschland ebnete.
Dass die 23 Flüchtenden kurz nach dem Grenzübertritt von der Polizei aufgegriffen wurden und die beiden mutmaßlichen Schleuser jetzt vor Gericht stehen, ist zweifellos als Erfolg zu werten. Unbegreiflich hingegen bleibt, warum die Geschleusten nach ihrem Aufgriff, ihrer erkennungsdienstlichen Behandlung und ihrer Weiterleitung in eine Asylbewerber-Einrichtung spurlos verschwinden konnten.
Der Fall erinnert an die Zustände im Herbst 2015, als massenhaft Flüchtlinge nach Deutschland kamen und ohne Wissen der Behörden irgendwo untertauchten. Zwar hat man im aktuellen Beispiel Fotos und Fingerabdrücke der illegal Eingereisten. Dennoch können sich die Betroffenen dem Staat unerkannt entziehen und ein Leben im Untergrund führen - ohne gültige Aufenthaltspapiere, ohne offiziellen Status als Flüchtling oder anerkannter Asylbewerber.
Ans Licht kam der Missstand, als der Vorsitzende Richter Uwe Kühnhold während der Verhandlung erklärte, dass er einige der Geschleusten gern als Zeugen geladen hätte. Aus diesem Grund habe er die Polizei gebeten, die aktuellen Meldeanschriften der Betroffenen zu ermitteln - leider vergeblich. "Die sind weg. Keiner weiß, wo", sagte der Richter und zeigte sich ratlos: "Wie das funktioniert - keine Ahnung."
Auch der Bundespolizist Heiko R., der den Ermittlungsvorgang bearbeitete, konnte wenig zur Aufklärung beitragen. Er bestätigte jedoch: "Letzten Endes sind alle untergetaucht. Kein einziger von denen ist im Bundesgebiet gemeldet." Der Polizist erklärte, dass alle 23 Geschleusten ohne Pässe in Deutschland ankamen und kurz nach ihrer Ergreifung "erkennungsdienstlich behandelt" wurden. Die personenbezogenen Datensätze habe man dem Ausländerzentralregister (AZR) übermittelt.
Anschließend, so Heiko R., seien die 22 Iraker und ein Iraner in die Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge und Asylsuchende nach Dresden gebracht worden. Dort werden Neuankömmlinge registriert und später in der Regel auf die Kommunen verteilt. Wohin es die 23 Geschleusten verschlagen hat, wisse man nicht. "Dann verliert sich die Spur", so der Bundespolizist vor Gericht. Lakonisch fügte er an: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Theoretisch könnten sie bei Verwandten in Deutschland untergekommen sein. Oder sie sind unerkannt weitergereist, nach Großbritannien, Frankreich oder Skandinavien.
Die Ausführungen des Vorsitzenden Richters und des Bundespolizisten stießen bei den Verteidigern der Angeklagten auf harsche Reaktionen. Rechtsanwalt Frank Hannig aus Dresden rief höhnisch in den Saal: "Der deutsche Staat hat die Herrschaften verloren.... Ein Offenbarungseid!" Sein Kollege, Rechtsanwalt Florian Berthold aus Bautzen, lästerte lautstark: "Wir können von einer erfolgreichen Einreise ausgehen. Prima."
Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden 23-jährigen Syrern Thaer Farouk Al J. und Nayef Ahmad A. "gewerbsmäßiges Einschleusen von Ausländern unter schwerer Gesundheitsgefährdung" vor. Dafür sieht das Gesetz Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. Die Verteidiger wollen eine Verurteilung auf Bewährung erreichen.
Der Angeklagte Thaer Farouk Al J. spricht im Gericht mit seinem Verteidiger Frank Hannig (r.)
Den Ermittlern zufolge leben die beiden Angeklagten in Dänemark. Dorthin waren sie vor einiger Zeit aus ihrer Heimat Syrien geflüchtet. Im Oktober 2021 sollen sie mit zwei Fahrzeugen - ein weißer Transporter der Marke Fiat Ducato und ein gemieteter BMW - von Dänemark aus über Deutschland nach Polen gefahren sein. Am frühen Morgen des 31. Oktober wurde der Transporter mit 23 eingeschleusten Menschen im Laderaum nahe Görlitz gestoppt. Der Fahrer Thaer Farouk Al J. flüchtete in einen Wald, konnte später jedoch gefasst werden. Sein mutmaßlicher Mittäter soll dem Transporter von Polen aus gefolgt sein. Er wurde ebenfalls in der Nähe von Görlitz gefasst, am Steuer des BMW.
Vor Gericht stellten sich die beiden Angeklagten als Opfer dar, die angeblich von nichts wussten und nur auf Geheiß und Druck "echter Schleuser" gehandelt hätten.
So behauptete Thaer Farouk Al J., er sei in Polen gewesen, um seinen aus Syrien geflüchteten Onkel nach Deutschland zu bringen. Weil er ihn in Polen nicht finden konnte, sprach er angeblich einen kurdischen Schleuser an. Der versprach Hilfe, verlangte jedoch eine Gegenleistung: Thaer Farouk Al J. solle den Kleintransporter "nach Deutschland" fahren, dürfe aber nicht in den Laderaum schauen und solle wegrennen, falls die Polizei ihn anhalten würde. Das habe er dann getan, so der Angeklagte.
Erst kurz vor der deutschen Grenze sei ihm aufgefallen, dass im Laderaum viele Menschen waren. Sie hatten verzweifelt um Hilfe geschrien und mit den Fäusten gegen die Innenwände gehämmert. Sie hatten Durst, außerdem war ihnen sehr kalt. Thaer Farouk Al J. sagte vor Gericht, er habe sich nicht getraut, die Menschen aus dem Auto zu schmeißen, denn sie hätten darauf bestanden, dass er sie "nach Deutschland" bringe. Sie seien "wütend" gewesen und wollten ihren Traum "kurz vorm Ziel" nicht aufgeben. Deshalb sei er weitergefahren.
Auch sein mutmaßlicher Mittäter Nayef Ahmad A. erklärte, er sei von unbekannten Männern zur Schleusung "gezwungen" worden. So habe er in dem BMW kurzzeitig vier oder fünf Flüchtlinge mitgenommen, sie aber noch in Polen wieder ausgeladen. Fakt ist: Bundespolizisten fanden bei dem Verdächtigen 2590 Euro Bargeld. Die Ermittler glauben, dass es sich um den Schleuserlohn handelt. Nayef Ahmad A. bestreitet das. Er habe das Geld aus Dänemark mitgebracht, lautete seine wenig schlüssige Erklärung.
Die Aussagen der Angeklagten stießen im Gericht teilweise auf große Skepsis. Die Staatsanwältin merkte süffisant an, in den Schilderungen wimmele es vor "Zufällen und Widersprüchen". Dass jemand die Männer zu der Straftat gezwungen hat, hält sie für "wenig glaubhaft". Stattdessen geht sie davon aus, dass sich die Angeklagten eine "erhebliche Einnahmequelle" verschaffen wollten. Auch der Richter zweifelte die Angaben der Syrer mehrfach an. "Mir erschließt sich das nicht", mahnte er die Männer zur wahrheitsgemäßen Aussage, schließlich befand er nüchtern: "Hier ist einiges gelaufen."
Klar scheint zu sein, dass die beiden Ertappten nur relativ kleine Rädchen im millionenschweren Schleuser-Geschäft sind. Ihre Auftraggeber bleiben unentdeckt. Zwar stellte Richter Kühnhold die Frage nach den "Hintermännern" der Straftat. Doch weder die Angeklagten noch die ermittelnden Polizisten konnten Angaben zu den Organisatoren machen, die mit Schleusungen Unsummen verdienen.
Die beiden Syrer, die seit rund drei Monaten in Untersuchungshaft sitzen und die im Gericht mit Hand- und Fußfesseln vorgeführt wurden, räumten am Ende des Prozesses ein, schwere Fehler gemacht zu haben. Sie hätten ein "schlechtes Gewissen" und würden heute verstehen, dass sie etwas Unrechtes getan haben. Unter Tränen baten sie den Richter um eine "milde Strafe", um "eine Chance".
Der Prozess wird am 2. Februar fortgesetzt. Dann soll auch das Urteil fallen.
Quelle: focus.de