FOCUS-Online-Reporter Axel Spilcker
Montag, 17.08.2020, 17:23
Seine Verbrecher-Karriere begann er im Alter von elf Jahren: Der Jungkriminelle aus dem türkisch-libanesischen Clan-Milieu im Ruhrpott brach in seine Schule ein, klaute in Geschäften, verprügelte mit Kumpels Schüler oder raubte sie aus. Er bedrohte Kinder mit einem Messer. Als die Lehrerin ihn zurechtwies, schlug der so Getadelte einfach zu. "Als ob ich Angst vor Ihnen hätte. Ich steche hier alle ab. Ich hau Sie kaputt", drohte der Schläger.
Der Junge stammte aus einer einschlägig bekannten Großfamilie. Drei seiner älteren Geschwister füllen etliche Strafakten, sein Vater ebenfalls. Doch der Benjamin der Sippe toppte alles. Bald tauchte er in der Intensivtäterdatei auf: Gefährliche Körperverletzung, Bandendiebstähle, Drogendelikte folgten. Bei Revierkämpfen machte er gegnerische Clanangehörigen klar, "wer hier das Sagen hat." Heute ist der Delinquent gerade 19 Jahre alt. Sein Strafregister weist bereits 24 Einträge auf. Derzeit sitzt der Serientäter zwei Jahre und fünf Monate wegen Fahrens ohne Führerschein in fünf Fällen ab.
Gut fünf Prozent der Clanmitglieder verübten im vergangenen Jahr fast ein Drittel aller Straftaten, die durch türkisch-arabischstämmige Großfamilien an Rhein und Ruhr begangen wurden. Dies geht aus dem zweiten Lagebild "Clankriminalität" hervor, das NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) und der Leitende Kriminaldirektor des Landeskriminalamts (LKA) NRW, Thomas Jungbluth, vorstellten.
Demnach stiegen die Fallzahlen verglichen mit 2018 um mehr als 30 Prozent auf 6104. "Das Phänomen Clankriminalität ist weit größer und gefährlicher als bislang bekannt".
Jede dritte Straftat drehte sich um Gewalt. Gleich sieben versuchte Tötungsdelikte zählt der Report auf, gefolgt von Betrügereien (15,4 Prozent), Diebstahl und Einbruch (14 Prozent). "Dies macht klar, dass Clankriminalität keine Kleinkriminalität ist", erklärte Reul, der hinzufügte, dass man einen langen Atem brauche, um das Phänomen wirksam zu bekämpfen.
Nach seinen Angaben zahlt sich die Politik der 1000 Nadelstiche aus: Seitdem der Unions-Hardliner den Kampf gegen die kriminellen türkisch-arabischstämmigen Familienzweige vor zwei Jahren forcierte, verzeichneten die Strafverfolger 1400 Kontrollaktionen mit dem Schwerpunkt im Ruhrgebiet, 570 Festnahmen sowie 10.000 Verwarngelder. Allein in 15 Verfahren auf dem Feld der Organisierten Kriminalität (OK) wurden knapp zwei Millionen Euro abgeschöpft.
Aus Sicht des LKA-OK-Chefs Jungbluth gibt es zwei Gründe für die eklatante Fallzunahmen: Zum einen habe sich "der Verfolgungsdruck durch die Polizei erhöht". Zum anderen habe man schwere Verkehrsdelikte wie Unfallflucht, Fahren ohne Führerschein oder die unter Clan-Machos so beliebten illegalen Autorennen mit hochgetunten Sportwagen in die Statistik aufgenommen. So stellten Zivilfahnder in Essen bei einer Großrazzia im Revier unter anderem einen Audi R 8 im Wert von 250.000 Euro sicher. Der Fahrer war gerade im Begriff gewesen sich mit einem Konkurrenten aus dem Clanmilieu auf einer Schnellstraße zu duellieren.
Um mehr als ein Drittel kletterte auch die Zahl der Tatverdächtigen auf 3779.
Inzwischen registriert das LKA kriminelle Ableger aus 111 Großfamilien. Jede fünfte Tat soll auf das Konto der beiden mächtigsten Clans Omeirat und El Zein gehen.
Als absoluter Clan-Hotspot firmiert Essen mit 852 Delikten im Jahr 2019. Die Ruhrschiene bildet seit der Zuwanderung durch Großfamilien aus dem Libanon neben Berlin und Bremen das Hauptoperationsgebiet. In Dortmund zerschlugen die Ermittler sieben Drogenringe. Die Gangster verschoben Heroin, Kokain und Marihuana im großen Stil. Dabei benutzten sie über Strohleute Shisha-Bars und andere Lokale als Rauschgiftbunker.
Die Gewinne steckten die Banden in teure Autos und Immobilien. Einen Teil transferierten sie in die Türkei und in den Libanon. Die Kontakte reichten nach Südamerika und in die Niederlande. Insgesamt wurden 380 Beschuldigte, gegen 77 von ihnen liegen Haftbefehle vor.
Inzwischen verfügt die Hälfte der kriminellen Clanmitglieder in NRW über einen deutschen Pass. Dieser Umstand belege, so Jungbluth, dass das viel beschworene Mittel der Abschiebung hier nicht greife.
An erster Stelle stehe bei den Clans die Familienehre. "Das heißt Stärke zeigen", führt der LKA-Experte aus. Die Staatsgewalt zähle demnach nicht. An den Sicherheitsbehörden sei es nun durch Repression und Prävention das Entstehen "einer Parallelwelt" zu verhindern.
Die Politiker im Landtag urteilten je nach politischer Coleur unterschiedlich über den Clanbericht. "Das Lagebild ist enttäuschend", befand Sven Wolf, der SPD-Vizefraktionschef der SPD, in Düsseldorf. Bisher sei kein einziger Boss verhaftet worden. Es gehe jetzt darum, die richtigen Schlüsse aus der Lage zu ziehen. "Clankriminalität ist Organisierte Kriminalität", führte Wolf aus. "Das bedeutet: Innenminister Reul darf sich nicht nur auf die Laufburschen konzentrieren. Er muss endlich auch bei den Bossen an der Tür klingeln und ihnen den Geldhahn zudrehen."
Die schwarz-gelbe Regierungskoalition begrüßte indes den neuen Bericht: Marc Lürbke (FDP) konnte sich einen Seitenhieb auf alte rot-grüne Landesregierung nicht verkneifen: Er sei froh, "dass Nordrhein-Westfalen weiter klare Kante im Kampf gegen das zuvor viele Jahre lang ignorierte Phänomen der Clankriminalität zeigt", so Lürbke.
Das zweite Lagebild zur Clankriminalität gehe tiefer an die Wurzel des Phänomens und bringe die Dimension in Nordrhein-Westfalen schonungslos ans Licht, analysierte sein Unionskollege Gregor Golland. "Das ist wichtig, denn Hinsehen ist der erste Schritt zur Lösung des Problems, das in unserem Land leider über Jahrzehnte gewachsen ist."
quelle: focus.de vom 17.08.2020